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Channel: Blog – Geschichte der Landesministerien in Baden und Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus
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„Täter Helfer Trittbrettfahrer“ Band 7: NS-Belastete aus Nordbaden und Nordschwarzwald

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Im November 2015 führte unser Mitarbeiter Moritz Hoffmann ein Interview mit dem Herausgeber der Reihe „Täter Helfer Trittbrettfahrer“ Wolfgang Proske. Im September des vergangenen Jahres erschien nunmehr der siebte Band der Reihe, die sich der Aufarbeitung der NS-Vergangenheit durch ehrenamtliche Autorinnen und Autoren und die Wahrnehmung der nationalsozialistischen Vergangenheit in regionalen Strukturen verpflichtet hat. Der Band umfasst 20 Biographien NS-Belasteter auf dem Raum Nordbaden und Nordschwarzwald.

Das Projekt entstand auf privater, nichtinstitutioneller Ebene ab 2008 in Ostwürttemberg, um Forschungsdefizite zum Nationalsozialismus in der Region abzubauen. Die nunmehr 110 Autorinnen und Autoren sind ehrenamtlich damit befasst, entsprechende Artikel zu verfassen. Dabei steht THT grundsätzlich jeder Person offen, die in der Lage ist, sich kompetent und wissenschaftlichen Kriterien entsprechend NS-Belasteten zu nähern und darüber angemessen zu berichten. Herausgeber ist Dr. Wolfgang Proske, Diplom-Sozialwissenschaftler und Lehrer für Geschichte und Bildende Kunst am Max-Planck-Gymnasium Heidenheim sowie am Abendgymnasium Ostwürttemberg.

THT will über geeignete Persönlichkeiten aus dem „Dritten Reich“ den Nationalsozialismus mit biografischem Ansatz erforschen und in einer lesbaren Form der Öffentlichkeit präsentieren. Die notwendigen Forschungen finden quellengestützt insbesondere in Archiven statt. Die Kooperation mit dem Forschungsprojekt „Geschichte der Landesministerien in Baden und Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus“ beinhaltet die Erarbeitung mehrerer Artikel zu badischen NS-Belasteten durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie Studierende der Universität Heidelberg.

Das Projekt „Täter Helfer Trittbrettfahrer“ sieht sich weiterhin mancher sehr kritischeren Stimmen aus der Bevölkerung ausgesetzt. So löste beispielsweise der Artikel des Herausgebers im sechsten Band über den früheren Erzbischof von Freiburg, Dr. Conrad Gröber, an seinem Geburtsort Meßkirch großen Wirbel aus. Proske hofft, dass es für die Leser von Interesse sein wird, von NS-Belastungen zu erfahren, die sich in anderen Zeiten, aber in der eigenen Umgebung und nur wenige Autofahrminuten entfernt abgespielt haben, von denen aber kaum etwas bekannt ist. Das „große Schweigen“ sorgte dafür, dass die meisten dieser Namen öffentlich nie verhandelt und insofern zumeist vergessen wurden. Bei den wenigen dennoch bekannt gewordenen Fällen sind heute oft seinerzeit unbekannte Quellen aufgetaucht, die jemanden in ein neues Licht zu rücken vermögen. Dennoch geht es heute nicht mehr darum, Menschen, die längst verstorben sind, zu verurteilen. Viel wichtiger ist, aus einer Vogelperspektive heraus falsche Erinnerungen zu korrigieren und durch Abstraktion aus dem Fehlverhalten für die Gegenwart zu lernen.

In diesem Band 7 wirkte sich die Zusammenarbeit mit dem Forschungsprojekt „Geschichte der Landesministerien in Baden und Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus“ sehr hilfreich aus. Mehrere Beiträge entstammen der Arbeit des Projekts, das erstmals die Rolle der obersten Landesbehörden in Flächenstaaten während der nationalsozialistischen Herrschaft systematisch in den Blick nimmt. Vielleicht auch deshalb ist der Anteil der akademisch gebildeten NS-Belasteten in diesem Band vergleichsweise groß geraten. Auch bietet THT jetzt einigen Studierenden an der Universität Heidelberg die Möglichkeit, ihre Ergebnisse zu publizieren und profitiert gleichzeitig von einem großartigen Synergieeffekt.

Am 26. Januar 2018 findet um 11 Uhr im Universitätsarchiv Heidelberg eine Vorstellung des siebten Bandes statt.

Inhalt des siebten Bandes:

  • Binz, Rudolf (1887-1945), bis 1937 Landrat in Wertheim, bis 1945 Landrat in Donaueschingen
    (Dr. Wolf-Ingo Seidelmann)
  • Borho, Emil (1902-1965), alter Kämpfer, Jurist, u.a. in der badischen Staatskanzlei Berlin
    (Clemens Wöppel)
  • Cerff, Karl (12.03.1907 Heidelberg – 04.05.1978 Karlsruhe), 1922 SA, 1926 NSDAP, ab 1928 Funktionär der Hitlerjugend Heidelberg sowie Baden und Reich, zuletzt 1943 SS-Brigadeführer, führendes Mitglied der HIAG, zuletzt 1963 2. Bundessprecher. Unterhielt diverse Kontakte zu prominenten Politikern.
    (Dr. Karsten Wilke)
  • Deussen, Julius (1906-1974), Dr. med. habil., Dr. phil., Psychiater, Oberfeldarzt. „erbpsychologische“ Untersuchungen, ab 1943 an der Heidelberger Psychiatrischen Universitätsklinik beteiligt an der Ermordung von Kindern.1955 Regierungsmedizinalrat, Tätigkeit für die Bundeswehr ab 1956, Oberstabsarzt, 1959 Oberfeldarzt. u.a. Gutachter für Kriegsdienstverweigerer.
    (Frank-Uwe Betz)
  • Gehrum, Julius (1889-1947), Goldschmied, Gendarm, 1933 NSDAP, 1934-1940  Leiter Gestapo Kehl, 1937 SS (zuletzt: SS-Hauptsturmführer), 6/1940 Sektionsleiter Gestapo in Straßburg (zuletzt Kriminalkommissar)
    (Eva-Maria Eberle)
  • Geiger, Willi  (22.5.1909 Neustadt/Weinstraße– 19.1.1994 Karlsruhe)
    Jurist, 1933 SA, Schulungs- und Pressereferent, 1934 NS-Rechtswahrerbund, NSV. 1937 NSDAP, 1938 SA-Rottenführer. Staatsanwalt Sondergericht Bamberg: Todesurteile. 1950 Bundesgerichtshof, 1951 Senatspräsident, 1951-1977 Bundesverfassungsgericht. Beteiligt 22.5.1975 am Urteil zum Extremistenbeschluss („Berufsverbote“).
    (Dr. Helmut Kramer)
  • Heim, Aribert (1914 – 1992, Kairo)
    Dr. med., KZ-Arzt, SS-Hauptsturmführer (1944). 1940 Lagerarzt Sachsenhausen, Juni 1941 Buchenwald, Oktober 1941 Mauthausen. Hundertfache Morde mit der Spritze. 1949 Praxis in Mannheim, 1954 Arzt für Frauenkrankheiten Baden-Baden. 1962 verschwunden, 2012 für tot erklärt.
    (Dr. Stefan Klemp)
  • Karg, Julius (13.11.1907 Mannheim – 15.4.2004 Mosbach): Jurist, ab 1933 SS-Mitglied (Obersturmführer), seit 1937 NSDAP-Mitglied und bad. Landesbeamter, am 21.6.1940 zum Chef der Zivilverwaltung im Elsass versetzt, 1940-1942 Landkommissar und NSDAP-Kreisrechtsamtsleiter in Rappoltsweiler, in zahlreiche Korruptionsfälle verstrickt, 1942 Parteiausschluss, 1943 wegen „Untreue“ zu 12 Jahren Zuchthaus verurteilt, strafrechtliche Verurteilung nach dem Krieg revidiert.
    (Dr. Wolf-Ingo Seidelmann)
  • Knäbel, Alois (1902-1965), Freikorps, 1933 NSDAP, SS (zuletzt SS-Sturmbannführer), 1941 Waffen-SS (ausgesprochener Killer, in SU, in Frankreich), Todesurteil, später 12 Jahre Haft (bis 1957), Suizid
    (Dr. Adalbert Metzinger)
  • Kraft, Herbert (*1886 in Heidelberg, gest. 1946 in Freiburg/Br.)
    Nationalsozialistischer Politiker aus Baden mit dem Spezialgebiet der Erziehungs- und Bildungspolitik. 1923 NSDAP,  bis 1929 Lehrer in Pforzheim, 1928-1933 Ortsgruppenleiter Pforzheim, von 1929 – 1934 MdL (Baden), letzter Landtagspräsident ab 1933. 1933 Ministerialrat im Badischen Unterrichtsministerium (Abteilung Höhere Schulen) und 1934 MdR (Wahlkreis Baden). 1940 zusätzlich Ministerialrat beim Chef der Zivilverwaltung Elsass, verantwortlich für die Abteilung Erziehung, Unterricht und Volksbildung sowie Sportgauführer Baden und Elsass.
    (Joey Rauschenberger)
  • Krieck, Prof. Dr. Ernst (*1882 in Vögisheim/Südbaden; gest. 1947 in Moosburg/Isar); Volksschullehrer und Autodidakt, führender nationalsozialistischen Erziehungswissenschaftler; 1932 NSDAP; 1933/34 Rektor der Universität Frankfurt; 1934-1945 Lehrstuhlinhaber der Philosophie an der Universität Heidelberg; 1937/38 Rektor der Universität Heidelberg; seit 1938 Niederlegung aller Ämter.
    (Vanessa Hilss)
  • Mühe, Wilhelm Dr., (24.05.1882-?), Jurist, badischer Ministerialdirektor.
    (Rebecca Heyder)
  • Müller-Trefzer, Friedrich Karl (1879 – 1960), Jurist, 1920 DVP, 1926 Oberregierungsrat Baden 1933 NSDAP und Leiter Badische Staatskanzlei (Michael Ruck: „Kollaborateur der ersten Stunde“), 1939 Ministerialdirektor badisches Innenministerium, 1952/53 umfassende Rechtfertigungsschrift
    (Prof. Dr. Frank Engehausen)
  • Neinhaus, Carl (1888-1965), Jurist. 1928 OB, 1.5.1933 Eintritt in die NSDAP, 1947 „Mitläufer“, 1949„Entlasteter“. 1950 CDU und Wahl in den Landtag von Württemberg-Baden. 1952-1960 Mitglied und Präsident der Verfassungsgebenden Versammlung, dann des Landtages von Baden-Württemberg. 1952 Wahl zum OB durch die Heidelberger Bürger. 1958 Abwahl.
    (Dr. Reinhard Riese)
  • Schmitthenner, Ludwig Paul (1884 in Neckarbischofsheim – 1963 Heidelberg). Historiker, 1925-1933 MdL (DNVP), 1933 NSDAP, 1933 Ordinarius für Geschichte der Universität Heidelberg, 1934 SS, 1938 Rektor der Universität Heidelberg 1940 badischer Kultusminister.
    (Viktor Fichtenau)
  • Six, Franz (alias Georg Becker) (12.08.1909 Mannheim – 09.07.1975 Bozen), 1939: Mitarbeiter im RSHA (Leiter Amt II), Abteilung II/1  Gegnererforschung) und I/3 des Hauptamtes SD, nach 1945: Werbechef der Porsche Diesel Motorenbau GmbH
    (PD Dr. Gideon Botsch)
  • Ulmer, Eugen (1903-1988), 1930 Professor in Heidelberg, 1933 SA und „NS-Rechtswahrerbund“, 1937 NSDAP, 1943 Kriegsrichter beim Gericht der Division 172, mindestens an 2 Todesurteilen beteiligt, nach 1945 Professor in Heidelberg und ab 1955 in München, von 1965-1973 Direktor des Max-Planck-Instituts für ausländisches und internationales Patent-, Urheber- und Wettbewerbsrecht in München.
    (Jan Ohnemus)
  • Voelkel, Helmut  (1902-1945), März bis Mai 1933 persönlicher Mitarbeiter von Finanz- und Wirtschaftsminister Köhler, danach Referent im bad. Finanz- und Wirtschaftsministerium, zeitweise Außenstelle der Staatskanzlei in Berlin, dann Landesgewerbeamt und erneut im Ministerium; NSDAP-Mitglied seit 1926
    (Katrin Hammerstein)
  • Wagener, Otto (29.4.1888 in (Karlsruhe-)Durlach, gest. 9.8.1971 in Chieming) SA-Gruppenführer, 1933 Leiter des Wirtschaftspolitischen Hauptamtes der NSDAP, Berater Hitlers in Wirtschaftsfragen, fiel in Ungnade, Rückzug ins Erzgebirge, Arisierer. 1937 erneut SA, mit Kriegsbeginn Wehrmacht, 1944 Generalmajor, auf Rhodos Einrichtung des KZ Calitea, dort Erschießung italienischer Kriegsgefangener. 1945 Gründung einer „Rhetoren-Schule“, die nach der Kapitulation zur „Universität des Widerstands“ werden sollte. 1946 in britischer Gefangenschaft 2300 Seiten biografische Aufzeichnungen. 1951 aus italienischer Gefangenschaft nach Intervention Bischof Alois Hudal/MdB Höfler entlassen. 1955 führender Neutralist.
    (Dr. Wolfgang Proske)
  • Weihenmaier, Helmut (1905-1995), 1933-1945 SA und NSDAP, 1939-1944 Kreishauptmann in Zamość/Polen, 1949 Oberregierungsrat, 1955-1960 Stadtdirektor/Bürgermeister in Tübingen, 1960-1971 Landrat in Freudenstadt
    (Dr. Markus Roth)
  • Wurster, Georg, (28. September 1897 Schmieh, Oberamt Calw – 19. Mai 1976 Alpirsbach), gelernter Kaufmannsgehilfe, Frontsoldat im Ersten Weltkrieg, Freikorpskämpfer (Baltikum) und Mitglied der „Organisation Consul“ und der „Schwarzen Reichswehr“, NSDAP-Mitglied seit 1920. Beteiligung am „Buchrucker-Putsch“ von 1923, Festungshaft. Seit 1928 NS-Propagandatätigkeit im Nordschwarzwald, nach 1933 hauptamtlicher Kreisleiter Calw der NSDAP, SA-Sturmführer. Ab Januar 1943 als Oberbereichsleiter zur Zivilverwaltung Minsk abkommandiert, ab Herbst 1944 vermutlich der Reichskanzlei zugeordnet.
    (Dr. Karl J. Mayer)

 

 


Verfolgung und Entrechtung an der Technischen Hochschule/Universität Stuttgart während der NS-Zeit

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Im Februar 2013 erhielt der Rektor der Universität Stuttgart ein Schreiben mit der Bitte, zwei Studenten zu rehabilitieren, die während der Zeit des Nationalsozialismus aufgrund einer gerichtlichen Verurteilung wegen Homosexualität von der damaligen Technischen Hochschule Stuttgart verwiesen worden waren. Dies war der Anlass, das Universitätsarchiv mit einem Forschungsprojekt zu betrauen, das zum Ziel hatte, möglichst alle Mitglieder der Hochschule namentlich zu ermitteln, denen während der NS-Zeit von Seiten der Hochschule Unrecht, Diskriminierung oder Verfolgung widerfahren war. Den verfolgten Hochschulmitgliedern sollte ein Gesicht gegeben werden.

Die Dokumentation der Projektergebnisse ist jetzt als Buch erschienen:

Norbert Becker und Katja Nagel: Verfolgung und Entrechtung an der Technischen Hochschule Stuttgart während der NS-Zeit. 520 Seiten, 70 Abb. Stuttgart – Belser Verlag. ISBN 978-3-7630-2805-4: Buchanzeige und Leseproben

Tatbestände der Verfolgung

Als Verfolgung gelten alle Maßnahmen, die dazu führten, dass Studierende aus rassistischen oder ideologischen Gründen von der Hochschule verwiesen oder Wissenschaftler und Mitarbeiter aus denselben Gründen entlassen wurden oder selbst ihre Hochschullaufbahn abbrachen. Ebenso sind die Aberkennungen von Diplom- und Doktorgraden und der Ernennungen zum Ehrenbürger oder zum Ehrensenator aus rassistischen oder politischen Gründen hinzuzurechnen. Zu den Verfolgten zählen auch die zahlreichen Zwangsarbeiter, die unfreiwillig während des Zweiten Weltkriegs an der Technischen Hochschule Stuttgart arbeiten mussten oder als zunächst freiwillig angeworbene ausländische Arbeitskräfte in das System der Zwangsarbeit gepresst wurden. In die Liste der Verfolgten wurden auch alle jüdischen bzw. im NS-Staat als jüdisch oder „nichtarisch“ geltenden Studierenden aufgenommen und zwar auch dann, wenn sie ihr Studium an der Technischen Hochschule Stuttgart (scheinbar) ungestört beenden konnten. So ist die vorliegende Dokumentation auch ein Gedenkbuch für die jüdischen Mitglieder der Technischen Hochschule/Universität Stuttgart, die während der NS-Zeit an der Hochschule waren.

Im Verlauf des Projekts konnten 442 geschädigte Mitglieder der Technischen Hochschule ermittelt werden, davon ca. 300 namentlich. An der Technischen Hochschule Stuttgart wurden 10,9 Prozent der ordentlichen und außerordentlichen Professoren, die hier zu Beginn des Jahres 1933 forschten und lehrten, aus rassistischen oder politischen Gründen amtsenthoben bzw. vorzeitig pensioniert (zum Vergleich: andere technische Hochschulen: 10 bis 11 Prozent, Universitäten: 19,3 Prozent). Die Quote der gleich zu Beginn der NS-Herrschaft in den Jahren 1933 und 1934 entlassenen Assistenten betrug mindestens 8,6 Prozent. Etwa 1,5 bis 2 Prozent aller Studierenden zwischen 1933 und 1945 wurden wegen ihres politischen Engagements als NS-Gegner, aus rassistischen Gründen als „Nichtarier“ oder wegen ihres nonkonformen Verhaltens zwangsweise exmatrikuliert bzw. kamen an der Hochschule wegen ihrer Abstammung aus jüdischen Familien in eine prekäre Lage. Mindestens 292 Zwangsarbeiter mussten während des Zweiten Weltkrieges an den technischen Instituten der TH Stuttgart arbeiten. Zwölf Ehrenbürger und Ehrensenatoren wurden mit rassistischen Begründungen oder aufgrund ihres Engagements in demokratischen Parteien oder Organisationen aus den Listen der Geehrten gestrichen, drei Promovierten wurde der Doktorgrad aberkannt, mindestens zwei Lehraufträge wurden nicht mehr verlängert. Auch fünf Mitarbeiter aus Technik und Verwaltung ließ man durch die Gestapo verfolgen und disziplinieren. Dies sind jedoch nur Mindestzahlen. Denn die Tatsache, dass viele Verfolgungsmaßnahmen willkürlich d.h. ohne Rechtsgrundlage geschahen und hierüber keine schriftlichen Dokumente entstanden sind, machen es sehr wahrscheinlich, dass viele Fälle unentdeckt geblieben sind und sehr wahrscheinlich auch bleiben werden.

Quellenlage

Gegenüber ähnlichen älteren Untersuchungen zu anderen Hochschulen hat sich die Quellensituation für die nun vorliegende Dokumentation zur TH/Universität Stuttgart erheblich verbessert, auch wenn 1944 fast das gesamte eigene Archiv der Hochschule bei Bombenangriffen auf Stuttgart verbrannt ist. Denn inzwischen können die Akten der Entnazifizierungsverfahren (Spruchkammerakten) und der Wiedergutmachungsverfahren, die nach Ende des Zweiten Weltkrieges entstanden sind, nach Ablauf von Datenschutz-Fristen und dank der guten archivischen Erschließung genutzt werden. Sie enthalten oftmals Hinweise auf einzelne Verfolgte oder ausführlichere Angaben zum Unrechtsgeschehen an der Technischen Hochschule Stuttgart während der NS-Zeit. Zudem ermöglichen neuere Fachdatenbanken, die Datenbanken der verschiedenen Archive, vor allem aber auch die Internetrecherche, entlegene Quellen zu den betroffenen Personen zu ermitteln oder auch die Adressen der Kinder und Enkel in Erfahrung zu bringen, um von diesen Dokumente und Familienerinnerungen zu erhalten. Neben Gesprächen und Korrespondenzen mit Nachfahren der Verfolgten liegen auch noch einige Zeitzeugeninterviews vor, die der Verfasser zwischen 1997 und 2003 mit Betroffenen aber auch mit zwei NS-Studentenführern durchgeführt hatte, so dass weitere Informationen zu informellen Vorgängen an der TH Stuttgart während der NS-Zeit bekannt wurden.

Der Professor für Theoretische Physik Paul Peter Ewald (1888–1985, links) trat 1933 aus Protest gegen die bevorstehenden Entlassungen der jüdischen Wissenschaftler von seinem Amt als Rektor der Technischen Hochschule Stuttgart zurück. Sein Assistent Carl Hermann (1898–1961, rechts) gab 1935 seine Stelle auf, weil er die Zumutungen durch die nationalsozialistische Hochschulleitung nicht mehr erdulden wollte | Klicken zum Vergrößern

Täter, Tätergruppen und ihre Motive

Ein wesentliches Ergebnis der Untersuchung ist die Erkenntnis, dass ein nicht geringer Teil der Unrechts- und Verfolgungsmaßnahmen von Stellen und Personen der Hochschule selbst ausging und nicht oder nicht allein auf Gesetze und Erlasse von übergeordneten staatlichen Stellen oder NS-Organisationen zurückzuführen ist. Die Verordnungen des württembergischen Kultministeriums gegen kommunistische und demokratische Studierende, aber auch das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ erscheinen im Licht der konkreten Verfolgungsmaßnahmen eher als staatliche Reaktionen auf die bereits stattgefundenen und noch andauernden Gewaltakte der Nationalisten und NS-Anhänger, die nun nach der Machtübernahme den Weg frei sahen, gegen die politischen Gegner und vermeintlichen Volksfeinde vorzugehen. Dieses Bild überrascht nicht, denn es entspricht den Beobachtungen der NS-Forschung, die in den letzten Jahrzehnten zur Geschichte anderer Institutionen gemacht wurden.

Zu Beginn der NS-Herrschaft wurden die Verfolgungen im Wesentlichen von den Studierenden initiiert und bei den staatlichen Stellen eingefordert. Sie waren in großer Mehrheit nationalistisch, völkisch und zum Teil auch antisemitisch orientiert. Fast 60 Prozent der Studenten waren in Korporationen organisiert, in denen die jungen Männer auf eine deutsch-nationalistische Weltanschauung eingeschworen wurden. Die studentischen Mitglieder der Korporationen traten ab dem Mai 1933 oft geschlossen in die SA und die NSDAP ein. Als Initiatoren der Relegationen ihrer Kommilitonen erscheinen – als Nachfolger der gewählten AStA-Vorsitzenden – aus den Reihen der Studierenden nun die nationalsozialistischen Studentenführer und Fachschaftsleiter.

Ein weiterer Ausgangspunkt der Verfolgung wurde das im NS-Staat neu geschaffene Amt des Dozentenführers, das die ideologische Überwachung und nationalsozialistische Ausrichtung der Assistenten und habilitierten Dozenten zur Aufgabe hatte. Der Dozentenführer erwirkte auch nach der ersten Verfolgungswelle 1933/34 vielfach die politisch motivierte Entlassung von Assistenten und Dozenten. Weitere Initiatoren des Unrechtsgeschehens waren die Rektoren, die zwar bis 1935 gegenüber den nationalsozialistischen Studenten noch in der Defensive waren und mitunter Schwierigkeiten hatten, ihre Autorität durchzusetzen, jedoch willig bei den Entlassungen und Relegationen mitwirkten. In der Zeit des Rektorats des Bauingenieurs Wilhelm Stortz zwischen 1935 und 1938 sind zahlreiche Verfolgungsmaßnahmen zu konstatieren.

Weitere Unrechtshandlungen gingen vom Studentensekretariat aus, wo mitunter Mitarbeiter der Hochschule ohne rechtliche Grundlage die Immatrikulation von „nichtarischen“ Studierenden verhinderten.

Diffamierungen und Behandlung der Verfolgten/Zwangsarbeiter

Neben Entlassungen und Relegationen sind auch die Ausgrenzung und die Diffamierung der jüdischen und sogenannten „nichtarischen“ Studierenden als Verfolgung anzusehen. Sie waren in der Regel von den anderen Studenten durch ein unausgesprochenes Kontaktverbot isoliert. Zudem wurden ihnen auch in den Laboren gesonderte Plätze angewiesen. Auch sind diffamierende, antisemitische Äußerungen und Verhaltensweisen von Dozenten bezeugt.

Für den Einsatz und die Behandlung der Zwangsarbeiter waren die Rektoren und die Institutsleiter verantwortlich, die die ausländischen Arbeitskräfte bei den Arbeitsämtern anforderten. Eine sehr schlechte Behandlung ist für das Forschungsinstitut für Kraftfahrwesen und Fahrzeugmotoren (FKFS) bezeugt, wo die sowjetischen Arbeitskräfte hungerten und mitunter geschlagen wurden. Das FKFS machte auch von der Möglichkeit Gebrauch, als Strafe für Fehlverhalten oder Flucht vom Arbeitsplatz seine Zwangsarbeiter aus Westeuropa in das berüchtigte Arbeitserziehungslager Oberndorf einzuweisen, wo KZ-ähnliche Zustände herrschten. Eine russische Zwangsarbeiterin des FKFS starb 1944 an offener Lungentuberkulose. Nicht viel besser dürfte es den Zwangsarbeitern an der Forschungsanstalt Graf Zeppelin (Flugtechnisches Institut der TH Stuttgart) ergangen sein, während für die Materialprüfungsanstalt eine eindeutig bessere Behandlung bezeugt ist.

In den Kontext der Verfolgung gehört auch die Behandlung der ausländischen Studierenden, die noch bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs an der Hochschule waren. Sie gerieten zwar erst gegen Ende der NS-Diktatur in ernsthaftere Bedrängnis, konnten in der Regel aber ihr Studium beenden. Allerdings herrschte ihnen als Ausländern gegenüber von Seiten der Studentenführung ein großes Misstrauen, weswegen sie durchweg von den deutschen Studierenden isoliert waren.

Zwangsarbeiter aus der Sowjetunion verladen um 1944 die Bibliothek der Materialprüfungsanstalt. Der zweite Mann von links trägt auf der Jacke den Schriftzug „Ost“, der ihn als „Ostarbeiter“ kenntlich macht. (UASt 17/684) | Klicken zum Vergrößern

Dissens und Widerstand

Dissens und Widerstand gegen die Unrechtsmaßnahmen kamen bis 1933 nur von den wenigen kommunistischen und demokratischen Studierenden, deren Engagement dann in vielen Fällen die Relegation zur Folge hatte. In den 1940er Jahre existierte eine katholische Studentengruppe, die aber nicht als Widerstandskreis anzusehen ist, sondern ihren Mitgliedern lediglich eine religiöse Rückzugsmöglichkeit gegen die antichristliche NS-Kultur bot. Es deutet nichts darauf hin, dass es unter den Studierenden der TH Stuttgart eine Verbindung zur „Weißen Rose“ gab, der Münchener Widerstandsgruppe um die Geschwister Sophie und Hans Scholl.

Wirksame Gegenmaßnahmen gegen Verfolgungen gab es lediglich in der Architekturabteilung und beim Rektor Heinrich Hess. In der Architekturabteilung ließen die Professoren einige sogenannte „Mischlinge ersten Grades“ (Personen mit zwei jüdischen bzw. als jüdisch geltenden Großeltern) ohne offizielle Immatrikulation weiter studieren und unterstützten diese zusätzlich durch Erwerbsmöglichkeiten in ihren Architekturbüros. Auch der letzte Rektor der NS-Zeit, der Elektrotechniker Heinrich Hess, ermöglichte entgegen einschlägigen Erlassen das Weiterstudium der „Mischlinge“, eine Praxis, die aber unter den deutschen Hochschulrektoren nicht unüblich war und vom Reichserziehungsministerium und anderen NS-Stellen geduldet wurde. 

Folgen der Entlassungen, Relegationen und der Zwangsarbeit

Die Folgen der Entlassungen und Relegationen waren für die Betroffenen sehr unterschiedlich. Ein einheitliches Bild lässt sich zwar nicht zeichnen, doch es gibt einige häufiger auftretende Muster in den Lebensläufen der Verfolgten.

Von den entlassenen 13  Professoren kehrten 3 wieder an die Technische Hochschule Stuttgart zurück. Die anderen waren zwischenzeitlich entweder schon verstorben oder emeritiert. Der Physiker Paul Ewald blieb 1945 in Belfast, wo er an der Queen’s University Professor für mathematical physics geworden war. Die entlassenen oder verdrängten Assistenten konnten in ihren Exilländern teils beruflich Fuß fassen, zumeist aber nicht ohne Schwierigkeiten bei der formalen Anerkennung ihrer deutschen Diplomabschlüsse und nicht ohne Zeitverlust. Für einen Teil ist durch die Entlassung eine Hochschullaufbahn dauerhaft verhindert worden. Ein kleinerer Teil konnte mit großem Zeitverlust jedoch wieder daran anknüpfen. Bei den aus politischen Gründen relegierten Studierenden gab es eine Gruppe, die einige Jahre später ihr Studium in Deutschland wieder aufnehmen und noch vor 1945 abschließen durfte. Einige relegierte Architekturstudenten haben trotz fehlendem Diplomabschluss in Architekturbüros Arbeit gefunden. Andere Relegierte jedoch mussten für die Fortsetzung des Studiums ins Ausland gehen oder brachen ihr Studium ab und mussten in nicht-akademische Berufe ausweichen.

Von den jüdischen Studierenden sind – soweit bekannt – nur zwei nicht emigriert. Der eine geriet nach Beginn des Zweiten Weltkriegs in das nationalsozialistische Lagersystem und überlebte die Zwangsarbeit im KZ Dora-Mittelbau. Der andere kam als jüdischer Zwangsarbeiter eines ungarischen Arbeitsbataillons in der Shoah ums Leben. Ein Teil der jüdischen Studierenden, die nach den Novemberpogromen 1938 relegiert wurden, wurde in Konzentrationslager verschleppt, von wo sie erst Anfang 1939 frei kamen. Soweit bekannt, konnten alle im Jahr 1938 Relegierten emigrieren aber im Ausland in der Regel ihr Studium nicht mit einem dem deutschen Diplom entsprechenden Abschluss beenden. Allenfalls gelang es ihnen, das deutsche Vordiplom als Bachelor-Abschluss anerkennen oder hierauf anrechnen zu lassen. Als Hindernisse für den Studienabschluss stellten sich die Studiengebühren in den angelsächsischen Ländern, die britische Internierung der deutschen Staatsangehörigen und dann die Familiengründungsphase dar, die dazu zwangen, das Studium im Ausland zugunsten der Erwerbstätigkeit aufzugeben. Nicht wenige erreichten dennoch im Zuge des Wirtschaftsaufschwungs der Nachkriegszeit in den Exilländern Großbritannien, Kanada und USA anspruchsvolle und entsprechend gut bezahlte Positionen in der Industrie.

Die sogenannten „Mischlinge ersten Grades“ konnten in der Regel ihr Studium in Deutschland beenden, sofern sie Soldaten der Wehrmacht gewesen waren und es ihnen gelungen war, gegen die informellen Widerstände an der Hochschule zu bleiben. Ihre Lebenssituation war gegen Ende der NS-Zeit gefährlich, da sie zur Zwangsarbeit in Lagern der Organisation Todt bestimmt wurden. Teils durch Flucht, teils durch Glück oder ihre berufliche Qualifikation konnten die meisten der harten körperlichen Zwangsarbeit entgehen und in der Nachkriegszeit ihr Studium an der TH Stuttgart beenden. Die sogenannten „Mischlinge zweiten Grades“ (Personen mit einem jüdischen Großelternteil) scheinen offiziell nur wenig behelligt worden zu sein, waren aber als „Nichtarier“ auch an der Technischen Hochschule beständig in einer gefährdeten Position.

Dieses Foto zeigt die Abschiedsfeier des jüdischen Chemiestudenten Günter Zittwitz (erster von links) im Februar 1939. Zittwitz war im Zuge der Novemberpogrome 1938 in das KZ Dachau verschleppt worden und zusammen mit den letzten jüdischen Studierenden am 12. November 1938 von der Technischen Hochschule Stuttgart relegiert worden. Wenige Tage, nachdem dieses Foto entstanden war, emigrierte er nach England. Das Foto fand sich im Nachlass Georg Liebels bei seiner Tochter in Toronto | Klicken zum Vergrößern

Nach Ende des Zweiten Weltkrieges wurden die sowjetischen Zwangsarbeiter in der Regel in die Rote Armee eingezogen. Sie stießen in Verwaltung und Bevölkerung der UdSSR mitunter noch bis in die 1970er Jahre auf Misstrauen, da sie im feindlichen Deutschland gearbeitet hatten. 

Aufarbeitung des NS-Unrechts durch die Technische Hochschule/Universität Stuttgart nach 1945

Nach dem Ende des NS-Regimes wurde die Technische Hochschule Stuttgart von ihren Repräsentanten als eine Institution verstanden, die selbst Opfer dieser Diktatur geworden war. Das hier geschehene Unrecht galt als eine Folge der Gesetze und Erlasse des NS-Staates. Dementsprechend wurde von der Hochschulverwaltung zum Nachteil einiger rassistisch Verfolgter lediglich auf diese nationalsozialistische Gesetzgebung verwiesen und die willkürlichen Maßnahmen der Verwaltung bei Relegationen einfach ignoriert. Es ist deutlich, dass Rektoren und Verwaltungsmitarbeiter kaum Engagement bei der Mitwirkung in Wiedergutmachungsverfahren zeigten. In den 1950er und 1960er Jahren knüpfte die Technische Hochschule Stuttgart mit der Wiederzulassung von Korporationen und der Wiedereinsetzung der Disziplinargerichtsbarkeit unkritisch an Traditionen an, die 1933 als geistige Keimzellen bzw. Werkzeug nationalsozialistischer Unrechtstaten gedient hatten.

Erst mit Beginn der wissenschaftlichen Erforschung der Hochschulgeschichte durch Professor Johannes H. Voigt Ende der 1970er Jahre wurden zum ersten Mal die NS-Verfolgten und die NS-Täter der Hochschule zum Thema. Die Universitätsleitung lehnte zwar 1988 mit guten Gründen eine Gedenktafel für die kommunistische Widerstandskämpferin Lilo Herrmann (die bis 1931 Studentin der TH war) ab, versäumte es aber dann, das schon selbst beschlossene und fertig geplante eigene Denkmal für alle Verfolgten der Universität auszuführen. Erst im Jahr 2000, als die Namen aller Ehrenbürger, Ehrendoktoren und Ehrensenatoren auf Glastafeln aufgelistet wurden, wurde vor dem Senatssaal auch eine Gedenktafel für die NS-Opfer der Hochschule angebracht. Gegen Ende des Forschungsprojekts lud die Universität Stuttgart im Februar 2017 zu einer Gedenkveranstaltung ein, zu der viele Angehörige der vertriebenen Hochschulmitglieder als Gäste begrüßt werden konnten. Der Rektor, Professor Wolfram Ressel, entschuldigte sich im Namen der Universität Stuttgart bei allen Verfolgten und ihren Angehörigen für das Unrecht, das sie in der Zeit des Nationalsozialismus durch die Technische Hochschule Stuttgart hatten erleiden müssen.

 

„Schule der nationalsozialistischen Weltanschauung“: Die Auseinandersetzung über den Bezug der NS-Presse durch Beamte

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Schreiben Robert Wagners vom 3. Dezember 1934 an Walter Köhler wegen zurückgehender Abonnementszahlen (GLA 233 Nr. 27965) | Klicken zum Vergrößern

Die Beziehungen und Machtverhältnisse zwischen den Gauleitungen der NSDAP und den Landesministerialverwaltungen bilden eines der Kernthemen des Projekts. Der stetige Kampf um die Oberhoheit im nationalsozialistischen Staat, der diese Beziehungen kennzeichnete, manifestierte sich nicht zuletzt in zahlreichen symbolischen Fragen wie beispielsweise dem Besuch von Parteiveranstaltungen durch Ministerialbeamte oder dem Bezug der Parteipresse. Gerade dem Bezug der NS-Presse maß die NSDAP eine hohe Bedeutung bei, und zwar aus verschiedenen Gründen. Zum einen waren die Versuche, die Beamten zum Abonnement nationalsozialistischer Kampfblätter zu drängen, als Machtdemonstration der Partei gegenüber der Beamtenschaft und dem Staat gedacht, den sie in den Beamten verkörpert sahen. Zum anderen spiegelte sich darin das grundsätzliche Misstrauen der NSDAP gegenüber der ideologischen Treue der Beamtenschaft wider. Vielen „Alten Kämpfern“ und führenden Parteifunktionären, zu denen auch Gauleiter Robert Wagner gehörte, galten die Verwaltungsbeamten als zu passiv, zu regelfixiert und zu sehr von den Werten des Weimarer „Systems“ beeinflusst. Ihre Loyalität gegenüber den neuen nationalsozialistischen Herrschaftsträgern, die sie im Zuge der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Jahr 1933 an den Tag gelegt hatten, wurde deshalb in vielen Fällen als rein äußerlich angesehen.

Nicht zuletzt aus diesem Grund wurde die Frage der Lektüre und des Abonnements nationalsozialistischer Zeitungen von den Parteistellen immer wieder zu einer wichtigen Angelegenheit stilisiert: Sie stellte für die NSDAP einen zentralen Lackmus-Test für die ideologische Zuverlässigkeit der Beamten dar. Es war daher kein Zufall, wenn die Frage des Abonnements nationalsozialistischer Zeitungen ein wichtiges Kriterium bei der „Politischen Beurteilung“ bildete, die die NSDAP im Falle anstehender Beförderungen von Beamten abzugeben hatte. Darüber hinaus erhoffte sich die Gauleitung von der regelmäßigen Lektüre der NS-Presse eine allmähliche ideologische Umorientierung der Beamten hin zu einer auch innerlichen Identifikation mit den programmatischen Zielen der Partei.

Indessen bissen die Nationalsozialisten mit ihren Versuchen, die Beamtenschaft zur Lektüre nationalsozialistischer Blätter zu verpflichten, immer wieder auf Granit. Dies zeigt ein weitgehend erfolgloser Vorstoß der badischen Gauleitung Ende des Jahres 1934. Auslöser des Vorstoßes waren Informationen der nationalsozialistischen Verlage an die Gauleitung, wonach im Jahr 1934 der Bezug der NS-Presse durch Beamte stark abgenommen hatte. Dies nährte bei den Parteiaktivisten den Verdacht, dass der vermehrte Bezug von Parteizeitungen im Jahre 1933 lediglich ein taktisches Manöver vieler Beamter gewesen war, um Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit gegenüber dem neuen Staat zu zerstreuen, ohne dass eine innerliche Hinwendung zur nationalsozialistischen „Weltanschauung“ erfolgt war. Wagner nahm diese Nachricht deshalb umgehend zum Anlass, sich am 3. Dezember 1934 in einem Brief an Ministerpräsident Walter Köhler (NSDAP) zu wenden. Darin bezeichnete er den Rückgang der Abonnements als „eine Gefahr für die Beamten selbst. Es ist die Aufgabe der Partei und der verantwortlichen Männer in der Staatsverwaltung, eine weltanschaulich einheitlich denkende Beamtenschaft heranzubilden. Diese Aufgabe kann nur erfüllt werden, wenn die Beamtenschaft sich laufend durch die Parteipresse unterrichten lässt. Die Parteipresse kann hier gewissermaßen die Aufgabe einer Schule übernehmen.“ Wagner bat Köhler daher, „durch entsprechende Anweisungen an die Dienstvorstände (= die Landesminister, R.N.) die Beamtenschaft anzuhalten, die parteiamtliche nationalsozialistische Presse zu lesen und zu abonnieren“. Dabei solle zwar keinerlei Zwang auf die Beamtenschaft ausgeübt werden. Doch solle jedem Beamten klargemacht werden, „welche Gefahren er eingeht, wenn er die nichtparteiamtliche Presse liest und sich dauernd durch sie informieren und beeinflussen lässt.“

Rundschreiben Walter Köhlers an die badischen Minister vom 7. Januar 1935 (GLA 233 Nr. 27965) | Klicken zum Vergrößern

Köhler leistete Wagners Bitte wenig später Folge und sandte am 7. Januar 1935 über die Staatskanzlei ein Rundschreiben an die Minister und den Rechnungshof, in dem er einerseits betonte, dass sich weite Kreise der Beamtenschaft in „erfreulicher Weise in die Weltanschauung des Nationalsozialismus eingelebt“ hätten. Andererseits bleibe aber, so Köhler, „auf dem Gebiete der Heranbringung des nationalsozialistischen Gedankenguts an die Beamtenschaft immer noch manches zu tun“. Aus diesem Grunde halte er es für besonders wichtig, dass sie sich „mit der Ideenwelt des Nationalsozialismus durch die Lektüre der nationalsozialistischen Literatur und vor allem der nationalsozialistischen Tageszeitungen vertraut“ mache. Er bitte die Minister deshalb, den Beamten und Angestellten ihres Dienstbereichs von seinem Anliegen Kenntnis zu geben.

Trug Köhler Wagners Ansinnen zunächst noch mit, kamen ihm aber offenbar Skrupel, als das Amt für Beamte der NSDAP-Gauleitung Anfang Januar 1935 damit begann, Fragebogen an öffentliche Verwaltungen zu schicken, auf denen jeder einzelne Beamte angeben musste, ob er nationalsozialistische Blätter abonniert hatte. Hinter der Aktion steckte vermutlich Wagner, der den Gauamtsleiter des Amts für Beamte, Leopold Mauch, am 3. Dezember 1934 angewiesen hatte, für eine „nachhaltige Werbung für die parteiamtliche Presse unter der Beamtenschaft besorgt zu sein“. Wagners Behauptung, keinen Zwang auf die Beamtenschaft ausüben zu wollen, war also reine Rhetorik; in Wirklichkeit sollten die Beamten durch die Partei zumindest stark unter Druck gesetzt werden. Hierzu passte, dass das „Amt für Volkswohlfahrt“ der badischen Gauleitung die staatlichen Behörden zur gleichen Zeit massiv damit behelligte, eine größere Anzahl der nationalsozialistischen Zeitschrift „Kampf der Gefahr“ zu beziehen.

Damit hatte die Gauleitung den Bogen überspannt. Auf einer Sitzung führender Beamter aller Ministerien am 11. Februar 1935 in der badischen Staatskanzlei, die von Ministerialdirektor Müller-Trefzer in Anwesenheit von Vertretern der in Karlsruhe ansässigen Landesdienststellen der Reichsverwaltung geleitet wurde, wurden nun erhebliche Bedenken gegen die Aktionen der Gauämter geltend gemacht. Sowohl Köhler als auch Müller-Trefzer und Ministerialrat Roderich Straub vom badischen Innenministerium formulierten grundsätzliche Einwände gegen die Fragebogenaktion des Amts für Beamte: Es sei rechtlich problematisch, wenn staatliche Beamte von parteiamtlichen Stellen zur Beantwortung solcher Fragen gezwungen würden; eine Rechtsverpflichtung der Beamten hierzu könne es nicht geben. Dabei versicherten sie sich per Telefonat der Rückendeckung des Reichsinnenministeriums, das eine solche Pflicht zumindest für Nichtparteimitglieder ebenfalls ablehnte. Auf der gleichen Sitzung verwahrten sich die leitenden Beamten auch gegen jeglichen Versuch der NSDAP, den Bezug nichtparteiamtlicher Zeitungen zu unterbinden. Welche Zeitung eine Behörde beziehe, sei, so Müller-Trefzer am Schluss der Sitzung „unter allgemeiner Zustimmung“ der Teilnehmer, wie bei der Auswahl der Akten zu bewerten: „Dritte könnten hierauf keinen Einfluss nehmen“.

Reichsstatthalter Badens, Robert Wagner (GLA Karlsruhe 231 Nr. 2937) | Klicken zum Vergrößern

Die Gauleitung musste daraufhin einen Rückzieher machen. Wagner höchstselbst war es, der angesichts des Gegenwindes aus der Ministerialverwaltung die Verteilung der Fragebögen nun missbilligte. Mauch blieb nichts anderes übrig, als vorerst zum Rückzug zu blasen: In einem Telefonat mit Müller-Trefzer sicherte er zu, die Verteilung der Fragebögen unverzüglich einzustellen. Ohnehin sei die Aktion völlig missverstanden worden, heuchelte er nun, denn es sei nie seine Absicht gewesen, irgendwelchen Druck auf die Beamten auszuüben.

Wie dieser Vorgang exemplarisch zeigt, hatte die Gauleitung die Beharrungskräfte unter der Ministerialbeamtenschaft unterschätzt. Ähnlich wie in Fragen der Personalpolitik war sie in der Debatte um den Bezug nationalsozialistischer Zeitungen nicht bereit, allzu weitreichende Eingriffe der Partei in die Entscheidungsautonomie der Ministerialverwaltung hinzunehmen. Eine Kritik am nationalsozialistischen Regime und seiner Ideologie ist hierin deshalb nicht zu erblicken. Doch sollte der Staat auch unter der nationalsozialistischen Diktatur gegenüber der Politik gewisse Reservatsphären bewahren. Dies änderte freilich nichts daran, dass die allermeisten Beamten bis auf wenige Ausnahmen loyale Staatsdiener blieben, die die Gewaltpolitik des nationalsozialistischen Regimes zuverlässig umsetzten und dem Führer oftmals sogar „entgegenarbeiteten“.

Quelle: GLA 233 27965.

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Zum Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus

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Anlässlich des Gedenktags für die Opfer des Nationalsozialismus möchten wir an die Beteiligung der Landesministerien insbesondere an den Anfängen der rassistischen und politischen Verfolgungen erinnern. Maßgeblich war sie im Vollzug des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 7. April 1933, das die Grundlage für die weitgreifenden Entlassungen von den Nationalsozialisten unerwünschten Beamten, Angestellten und Arbeitern aus dem Öffentlichen Dienst bot.

Die Ausführung dieses hastig zusammengeflickten Willkürgesetzes beschäftigte die Landesministerialbürokratien über viele Monate hinweg, auch weil es mehrerer Änderungsgesetze und Durchführungsverordnungen bedurfte, um die als „Säuberungen“ deklarierten Entrechtungen in dem angestrebten Ausmaß vorzunehmen. In dem Bemühen, die Entlassungsinstrumente zu schärfen und Schlupflöcher im Gesetz zu schließen, traf die „Dritte Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ vom 6. Mai 1933 unter anderem Vorkehrungen für die rassistisch motivierte Verdrängung von Hochschullehrern, die als Honorarprofessoren, nichtplanmäßige außerordentliche Professoren und Privatdozenten keinen Beamtenstatus hatten und deshalb auch nicht automatisch zu entlassen waren: Ihnen wurde nun die Lehrbefugnis entzogen.

Die hier anhängende Liste aus den Aktenbeständen des badischen Staatsministeriums dokumentiert den Vollzug dieser Durchführungsverordnung an den Universitäten Freiburg und Heidelberg sowie der Technischen Hochschule Karlsruhe. Neben den Namen der zwölf Betroffenen präsentiert sie auch deren akademische Kurzviten und macht damit, sicherlich ganz ungewollt, auch deutlich, welchen wissenschaftlichen Aderlass man den Hochschulen aus vermeintlichen politischen Opportunitätsgründen 1933 zufügte.

Quelle: GLA 233 24139

 

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„Dem Ermächtigungsgesetz werden wir als geborene antiparlamentarisch eingestellte Menschen selbstverständlich zustimmen“: Die Deutschnationalen in Baden als Wegbereiter des Nationalsozialismus

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Ausschnitt eines Flugblattes der DNVP aus dem Jahr 1919 (GLA O 685) | Klicken für Gesamtansicht

Selbst in umfangreichen Forschungswerken über den Nationalsozialismus, seinen Aufstieg sowie die Machtübernahme erscheint die Deutschnationale Volkspartei (DNVP) lediglich am Rande. Freilich lässt sich darüber spekulieren, wie der Verlauf der Geschichte ausgesehen hätte, wenn der Medienmogul Alfred Hugenberg im Januar 1933 nicht in eine Koalitionsregierung mit Hitler eingetreten wäre. Der Autor forscht gegenwärtig zur Geschichte der badischen DNVP und vergleicht ihre Gründung während der Revolutionswirren 1918/19 mit der zunehmenden Radikalisierung in den letzten Jahren der Weimarer Republik. Infolge der nationalsozialistischen Wahlerfolge biederten sich die badischen Deutschnationalen den Nationalsozialisten an und spielten eine aktive Rolle bei der Zerstörung der ersten deutschen Republik.

Die badische Landesgruppe der DNVP wurde im Winter 1918 infolge der Novemberrevolution als „Christliche Volkspartei“ gegründet. Über sie ist in den Archiven jedoch kaum Material zu finden; eine Umbenennung erfolgte nach der Reichsparteigründung. Prominente Gründungsmitglieder waren beispielsweise der Tauberbischofsheimer Pfarrer Wilhelm Karl und der Karlsruher Oberkirchenrat Theodor Friedrich Mayer. Sowohl Karl und Mayer als auch fünf weitere Deutschnationale wurden am 15. Januar 1919 in die badische Nationalversammlung gewählt. In seiner Rede während der ersten öffentlichen Sitzung sicherte Mayer trotz deutlicher Seitenhiebe in Richtung der vorläufigen Volksregierung eine konstruktive Mitarbeit der DNVP auf der Grundlage einer demokratischen Verfassung zu.

Ein weiteres Gründungsmitglied war der ehemalige Präsident des Karlsruher Oberlandesgerichts Adelbert Düringer, der als einziger DNVP-Abgeordneter aus Baden in die Weimarer Nationalversammlung gewählt wurde. Auch war er, obwohl überzeugter Monarchist, bereit, am neuen Staat mitzuarbeiten. Düringer zählte zum gemäßigten Flügel der DNVP und wurde vom Mannheimer Rechtsanwalt Max Hachenburg als „das Ideal eines Richters“ charakterisiert: „Nichts war ihm schlimmer als der Argwohn des Antisemitismus, der sich mit der Zugehörigkeit zur Deutschnationalen Partei leicht verband. In ihr bilde er, wie er mehrfach erzählte, mit Posadowski und Delbrück den philosemitischen Flügel.“ Düringer war auch der festen Überzeugung, dass eine Regierung sich nicht über das Volksempfinden hinwegsetzen könne, weshalb er trotz seiner monarchistischen Einstellung die Revolution und den neuen Staat als Ausdruck des Volkswillens verstand. Aufgrund seiner gemäßigten Position geriet er jedoch zunehmend in die Kritik des radikalen Flügels der DNVP und wechselte im Herbst 1922 – nach dem Mord an Walther Rathenau – zur Deutschen Volkspartei (DVP) über.

Die DNVP war keine Neugründung, sondern ein Zusammenschluss rechtsstehender Vorkriegsparteien, die infolge der Novemberrevolution einen sozialistischen Staat und Enteignung befürchteten. Die Neugründung sollte in der Öffentlichkeit ohne die Mitwirkung der alten Rechtsparteien erfolgen, die sich mehrheitlich für eine Kriegsfortsetzung eingesetzt hatten. Mit Adelbert Düringer wurde in Baden somit ein gemäßigter Konservativer zum ersten Vorsitzenden gewählt. Auf Reichsebene war die DNVP von steten Flügelkämpfen gezeichnet: So trennte sich beispielsweise 1922 der radikal-völkische Flügel von der DNVP als „Deutschvölkische Freiheitspartei“ ab und ging 1924 eine Fraktionsgemeinschaft mit der NSDAP ein. Nach der Reichstagswahl im Dezember 1924 war die DNVP an der Regierung in den Kabinetten Luther und Marx beteiligt, was ihr von der NSDAP als Verrat an den rechten Idealen vorgehalten wurde. Aus der Reichstagswahl vom 20. Mai 1928 ging die DNVP als klarer Verlierer hervor, obwohl sie nach wie vor die zweitstärkste Kraft nach der SPD mit 14,3% wurde. Infolge der Wahlniederlage konnte sich Alfred Hugenberg als Parteivorsitzender durchsetzen. Er formte die Partei nach seinen Vorstellungen um und radikalisierte ihr politisches Auftreten.

Paul Schmitthenner (UAHD BA Pos I 01267) | Klicken zum Vergrößern

Bei der Landtagswahl in Baden am 27. Oktober 1929 konnte die DNVP lediglich 3,7% der Stimmen auf sich vereinen und zog mit drei Abgeordneten (Paul Schmitthenner, Johanna Richter und Gustav Habermehl) in den Landtag ein. Der NSDAP gelang der Einzug mit sechs Abgeordneten (7%). Die „Badische Zeitung“ – eine deutschnationale Tageszeitung – sah in der Wahlniederlage der DNVP eine Zersplitterung der „nationalen Volksteile“, die den „Lebenskampf des ganzen deutschen Volkes [gegen den internationalen Marxismus] außerordentlich erschwert.“ (Badische Zeitung vom 5. November 1929). Der badische Landtag wurde von den Nationalsozialisten zur Schaubühne ihrer Propaganda missbraucht. Unter dem Fraktionsvorsitzenden Schmitthenner erschwerte jedoch auch die deutschnationale Gruppe – mit drei Mandaten verfehlte sie den Fraktionsstatus – eine produktive Arbeit. Mit zahlreichen undurchführbaren Anfragen und Anträgen betrieben die Deutschnationalen dieselbe Obstruktionspraxis wie die Nationalsozialisten. So reichten sie beispielsweise unmittelbar zu Beginn der Sitzungsperiode 1929/30 insgesamt 18 Anträge ein, ohne sich anschließend konstruktiv an der Landtagsarbeit zu beteiligen.

Symbolisch war auch das Verlassen des Sitzungssaals der nationalsozialistischen und deutschnationalen Abgeordneten am 6. November 1929 während eines Nachrufs auf den an ebendiesem Tag verstorbenen Max von Baden. Die Karlsruher Zeitung kommentierte den „Exodus“ am darauffolgenden Tag: „Auch in diesem Falle haben sich die Deutschnationalen ins Schlepptau der Nationalsozialisten nehmen lassen. Das kann noch zu sehr unangenehmen Zwischenfällen führen.“

Paul Schmitthenner folgte dem republikfeindlichen Kurs seiner Partei unter Hugenberg und fiel mit zunehmend aggressiveren Reden auf. So kritisierte er beispielsweise in seiner am 28. April 1932 im Landtag gehaltenen Rede, die von der Breisgauer Zeitung unter dem Titel „Die deutschnationale Abrechnung mit dem badischen System“ abgedruckt wurde, die politischen Maßnahmen in Baden gegen die Umtriebe der NSDAP und forderte von der Regierung, „die Opposition mit der Regierungsverantwortung zu belasten.“ Lennartz resümiert in ihrem Artikel zu Schmitthenner folgerichtig, dass er „sich damit an der Verunglimpfung des parlamentarischen Systems [beteiligte] und […] so zu dessen Zerstörung bei[trug].“

Für seine Anbiederung an den Nationalsozialismus wurde Schmitthenner mit einer Professur an der Heidelberger Universität und einem Posten in der badischen Regierung belohnt. Der badische Reichsstatthalter Robert Wagner würdigte Schmitthenner während seiner Rede am 8. Mai 1933: „Weiter gilt es in diesem Augenblick eines Mannes zu gedenken und ihm Dank und Anerkennung zu sagen, eines Mannes, den wir, obwohl er nicht zu unserer nationalsozialistischer Bewegung gehört, immer geschätzt haben und dem unsere Verehrung nicht nur in der Vergangenheit gehört hat, sondern auch in der Zukunft gehören wird, des jetzigen Staatsrats Professor Dr. Schmitthenner aus Heidelberg.“

Ernst-Christoph Brühler um 1931 (GLA 231 Nr. 2937 (1003)) | Klicken zum Vergrößern

Am 8. März 1933 war Schmitthenner als Vertreter der Deutschnationalen zu den Koalitionsverhandlungen der Nationalsozialisten mit dem Zentrum hinzugezogen worden. Einzelheiten der Verhandlungen können nunmehr auch aus Köhlers Lebenserinnerungen und einem zeitnah entstandenen Protokoll entnommen werden, welches sich im Freiburger Nachlass des Zentrumspolitikers Ernst Föhr befindet. Gemeinsam mit Schmitthenner habe Köhler, so schreibt er es in seinen Memoiren, Föhr einen Vorschlag zur Regierungsbildung unterbreitet, „in der NSDAP und DNVP die Mehrheit hätten und in der wir den Staatspräsidenten und zwei Minister und Zentrum und DNVP je einen Minister erhalten sollten“. Schmitthenner selbst wollte das Kultusministerium übernehmen, welches ihm aber auch infolge der obsolet gewordenen Koalitionsverhandlungen von Wagner verwehrt blieb; dieser sicherte es bereits seinem Parteikollegen Otto Wacker zu.

Während der Abstimmung über das badische Ermächtigungsgesetz am 9. Juni 1933 sprach der Freiburger Gymnasiallehrer Ernst-Christoph Brühler eine ebenso aggressive Rede gegen die badische Zentrumspolitik, die man durchaus als eine Abrechnung mit der Weimarer Republik lesen kann: „Auch außenpolitisch sind Sie [Ernst Föhr] in der Lage gewesen, den Erfüllungskurs […] umzubiegen, wenn Sie sich auf die immer stärker werdenden Kräfte auch mit gestützt hätten, auf die nationalen Kräfte, die heranwuchsen in allen diesen Jahren, und die wir durch Verfolgung hindurch – wie alle miteinander, die Nationalsozialisten, wir Deutschnationale, die SA-Leute, die SS-Leute und die Stahlhelmer […] in diesen 14 Jahren durchgetragen haben.“ Abschließend begrub Brühler den badischen Landtag mit den Worten: „Dem Ermächtigungsgesetz werden wir als geborene antiparlamentarisch eingestellte Menschen selbstverständlich zustimmen (Lebhafter Beifall und Händeklatschen).“

 

Quelle: Rede Ernst-Christoph Brühlers zum badischen Ermächtigungsgesetz am 9. Juni 1933, in: Verhandlungen des Badischen Landtags. V. Landtagsperiode (6. März 1933 bis 14. Oktober 1933). 1. Sitzungsperiode (6. März 1933 bis 14. Oktober 1933). Heft 572, Sp. 57–60.

 

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Unterstützung „alter Parteigenossen“ durch die badische Ministerialbürokratie: der Fall Gustav Mussgnug

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Fragebogen aus der Personalakte von Gustav Mussgnug (GLA 235 Nr. 1699) | Klicken zum Vergrößern

So rigoros die nationalsozialistischen Machthaber in den badischen Landesministerien im Frühjahr 1933 ihre neugewonnene personalpolitische Verfügungsgewalt für die rassistische und politische „Säuberung“ des öffentlichen Dienstes nutzten, so vorsichtig zeigten sie sich bei der Förderung eigener Altparteigenossen. Bereits bei einer Sitzung der kommissarischen Regierung am 27. März 1933 gab Robert Wagner für die Beamtenpolitik die Parole aus, „dem Ansturm der Wünsche auf Anstellung aus dem nationalen Lager heraus eine gewisse Widerstandsfähigkeit“ zu zeigen, und im Großen und Ganzen wurde diese Parole dann auch befolgt. Der neue Amtschef im Kultusministerium Otto Wacker etwa vollzog zwar in seinem Zuständigkeitsbereich in den folgenden Wochen und Monaten ein umfangreiches Personalrevirement, das sich jedoch auf die Schlüsselpositionen konzentrierte: im eigenen Ministerium auf die Abteilungsleitungen und im Schulwesen zum Beispiel auf die Schulaufsichtsbehörden und die Rektorate der höheren Schulen, in die in beträchtlichem Umfang NSDAP-Altparteigenossen aufrückten. Auf der Ebene der mittleren und unteren Beamten sowie der Angestellten, die für die politische Neuausrichtung der Kultuspolitik weniger wichtig zu sein schien, verzichtete Wacker – wie auch seine Ministerkollegen in den anderen Ressorts – aus Kosten- und anderen Effizienzgründen dagegen darauf, in größerer Zahl politisch einschlägig profilierte Kandidaten neu einzustellen.

Diese Zurückhaltung kontrastierte deutlich mit dem parteiamtlichen Kurs der NSDAP, die seit dem Sommer 1933 darauf drängte, arbeitslose Altparteigenossen bevorzugt einzustellen: Ein Runderlass von Rudolf Heß, dem „Stellvertreter des Führers“, motivierte dies im Juli mit den Nachteilen im beruflichen Fortkommen, die viele von ihnen in der Kampfzeit vor der Machtübernahme erlitten hätten, und im Oktober wurde von der NSDAP unter Mitwirkung der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung die erste Sonderaktion zur beschleunigten Unterbringung von Altparteigenossen gestartet – mit besonderen Vergünstigungen für „frühe Altparteigenossen“ (mit einem Parteieintritt vor dem September 1930) und mindestens ein Jahr tätig gewesene Funktionsträger. In den Karlsruher Ministerien reagierte man auf diese Sonderaktion eher pflichtschuldig als mit großem Elan: Um guten Willen zu demonstrieren, wurden in ihren Zuständigkeitsbereichen jeweils einzelne Altparteigenossen neu eingestellt, im Falle des Kultusministeriums sogar einer im Hause selbst. Sein Werdegang sei an dieser Stelle geschildert.

Gustav Mussgnug wandte sich Anfang April 1934 mit einem Bewerbungsschreiben an das Kultusministerium. Beigefügt war ein Lebenslauf, in dem der 32-Jährige einen Überblick über seine Ausbildung und seine berufliche Karriere gab. Nach der Volksschule hatte er eine Lehre in einer Versicherungsagentur absolviert und anschließend wechselnde Beschäftigungen als Kontorist und Buchhalter wahrgenommen: in einer Seifenfabrik, bei einer Versicherung, in einer Herdfabrik und beim städtischen Fürsorgeamt in Karlsruhe. Nach 1928 war Mussgnug eine Zeitlang arbeitslos; aus der anschließenden Beschäftigung beim Statistischen Amt der Stadt Karlsruhe wurde er 1931 entlassen, „auf Grund meiner Aufstellung als nationalsoz. Angestelltenrat“. Zum 1. Juli 1933 war Mussgnug wieder in Lohn und Brot gelangt als Aushilfskraft beim Statistischen Landesamt; allerdings stand die Beendigung dieser Beschäftigung unmittelbar bevor. Auch wenn Mussgnug formal nicht in das Raster der Sonderaktion fiel, da er akut nicht arbeitslos war, schien er nach seinen politischen Meriten doch eine Förderung zu verdienen: Der NSDAP nämlich gehörte er bereits seit dem März 1929 (Mitgliedsnummer 131.525) an.

Gesuch Gustav Mussgnungs um Anrechnung der Zeit seiner Arbeitslosigkeit auf das Besoldungsdienstalter (GLA 235 Nr. 1699) | Klicken zum Vergrößern

Da im Kultusministerium gerade eine Angestelltenstelle in der Kanzlei frei wurde, bat Ministerialdirektor Paul Frank Mussgnug rasch zu einem Vorstellungsgespräch und veranlasste nach Rücksprache mit dem zuständigen Arbeitsamt „sowie dem Sozialreferenten der SA“ seine Einstellung zum 16. Mai 1934 nach Vergütungsgruppe IV des Tarifabkommens für die Angestellten der badischen Staatsverwaltung. Wie sich Mussgnug in das neue Arbeitsumfeld einfügte, in dem er einige wenige Neuparteigenossen der NSDAP und zahlreiche Nichtparteigenossen vorfand, und ob er den fachlichen Anforderungen gewachsen war, erschließt sich aus seiner Personalakte nicht. Allerdings wird aus ihr ersichtlich, dass sein Gehalt nicht ausreichte, um sich seiner materiellen Sorgen zu entledigen, denn bereits im Februar 1935 wandte er sich an die Amtsleitung mit der Bitte um Gewährung eines unverzinslichen Gehaltsvorschusses, da es ihm trotz seiner „eifrigen Bemühungen“ nicht gelungen sei, sich von den Schulden zu befreien, die noch aus der Zeit seiner Arbeitslosigkeit stammten. Es sei ihm nicht möglich, „ohne meine Familie weiterhin wirtschaftlich Not leiden zu lassen, nach meinem seitherigen Abzahlungssystem Zahlungen zu leisten. Bei der seitherigen Art meiner Rückzahlungen sind mir alles in allem für meine 4 köpfige Familie rund 60.- RM zur Lebenshaltung verblieben. Ich kann und darf, schon meinen Kindern zu liebe, diese äusserste Sparsamkeit meiner Familie nicht mehr zumuten“.

Nur wenige Wochen nachdem Mussgnug der Gehaltsvorschuss umstandslos bewilligt worden war, wandte er sich erneut an Minister Wacker – dieses Mal mit der Bitte um Gewährung einer Beihilfe, „da ich sowie meine Familie mit Anschaffungen aller Art (hauptsächlich Kleidung, Schuhe etc.) seit Jahren zurückstehen mußten“ und vor allem er selbst „dringend eines Anzugs“ benötige, „um einigermassen als anständiger Mensch mich sehen lassen zu können“. Auch dieses Gesuch wurde wohlwollend geprüft und Mussgnug umgehend zulasten des Pfälzer katholischen Schulfonds eine einmalige Beihilfe in Höhe von 140 Reichsmark bewilligt – das war annähernd ein Monatsgehalt. Dieses dauerhaft ein wenig aufstocken, bemühte man sich im Kultusministerium zur gleichen Zeit ebenfalls, denn man unterstützte einen Antrag Mussgnugs vom April 1935, die Zeit seiner Arbeitslosigkeit von 1931 bis 1933 auf sein Besoldungsdienstzeitalter anzurechnen: Die seinerzeitige Entlassung aus dem Statistischen Amt der Stadt Karlsruhe wollte Mussgnug als politische Verfolgung gewertet wissen und ließ sich vom früheren Vorsitzenden des Angestelltenrats bestätigen, dass „ohne Zweifel seine bekannte Einstellung als Nationalsozialist den Ausschlag gegeben hat“. Auch parteiamtliche Zeugnisse brachte Mussgnug bei: Die Gaugeschäftsstelle der NSDAP bescheinigte ihm, dass er „von Ende 1931 bis 10. Dezember 1933 Politischer Leiter der Ortsgruppe Hochschule“ war, und der zuständige SS-Obersturmführer bestätigte seine Mitgliedschaft in der SS vom März 1929 bis August 1931. Im Kultusministerium machte man sich das Anliegen zu eigen und trug es in einem Antrag an das Finanz- und Wirtschaftsministerium weiter: Dass die Zeit der „unverschuldeten Arbeitslosigkeit“ Mussgnugs, der sich als „ein ruhiger, fleißiger und gewissenhafter Arbeiter“ mit vorbildlicher Führung erwiesen habe, „auf die Vordienstzeit nicht in Anrechnung gebracht werden“ konnte, müsse als „eine ganz besondere Härte bezeichnet werden“. Diese solle nun aus „Billigkeitsgründen“ beseitigt werden, indem ihm die „bei der SS und PO zugebrachte Zeit vom 21.3.31 bis mit 12.7.33 = 2 Jahre 133 Tage als Vordienstzeit angerechnet wird“. Das Finanz- und Wirtschaftsministerium erklärte sich damit einverstanden.

Vom badischen Gaupersonalamt angefertigte Liste versorgungsbedürftiger „letzter Vorkämpfer“ (GLA 233 Nr. 26291) | Klicken zum Vergrößern

Trotz des Entgegenkommens des Kultusministeriums gelang es Mussgnug, der unterdessen in die Vergütungsgruppe V hochgestuft worden war, nicht, seine wirtschaftlichen Verhältnisse zu konsolidieren. Unmittelbar nach Rückzahlung des ersten Gehaltsvorschusses bat er im Mai 1936 um die Gewährung eines zweiten – der Anlass war eine Reise seiner Frau nach Polen „zwecks Regelung von Erbschaftsangelegenheiten“. Der erneuten Bewilligung eines Gehaltsvorschusses folgte rasch ein zweites Beihilfegesuch, weil die erhofften finanziellen Erträge der Polenreise seiner Ehefrau „infolge der ebenfalls dort eingeführten Devisenbestimmungen“ ausblieben. Das Kultusministerium bewilligte auch dieses Gesuch, wohl auch weil sich unterdessen ein Gläubiger – die Firma Photo-Porst machte Forderungen gegen Mussgnug geltend – mit der Drohung einer Lohnpfändung vorstellig geworden war. Eine nachhaltige Besserung trat allerdings auch weiterhin nicht ein: Die Rückzahlungsfristen für den Gehaltsvorschuss mussten verlängert werden, die Katholische Kirchensteuerkasse bat zur Vermeidung einer Lohnpfändung um einen freiwilligen Lohnabzug, und im April 1937 ersuchte Mussgnug zum dritten Mal um Bewilligung einer Beihilfe, da er weiterhin „kaum in der Lage“ sei, „die wirtschaftliche Lage meiner Familie sicher zu halten“. Das Kultusministerium stimmte erneut zu, ebenso ein halbes Jahr später der Tilgung des Restbetrags seines zweiten Gehaltsvorschusses. Ein Ende fand die landesministerialbürokratische Fürsorge für den verschuldeten Altparteigenossen erst mit dessen Kündigung wegen „Einberufung“ zum Dienst in der Landeskulturstelle Baden zum 1. Mai 1938.

Was sich in der Personalakte Gustav Mussgnugs als ein individuelles Problem darstellt – nämlich die langwierige und bürokratisch aufwendige materielle Integration von Altparteigenossen, blieb auch allgemein als politisches Thema virulent: Im März 1934 ermöglichte ein Erlass des Reichsinnenministers, Beamte, „die sich im Kampfe um die nationale Erhebung besonders verdient gemacht haben“, „außer der Reihe“ zu befördern. Ein Jahr darauf, am 29. März 1935, wurde auf einer Sitzung des Reichskabinetts beschlossen, Beamtenstellen des unteren und des einfachen mittleren Dienstes bevorzugt mit Altparteigenossen (mit Eintrittsdatum vor dem 14. September 1930) zu besetzen. Im Frühjahr 1936 schließlich wiederholte die NSDAP ihre Sonderaktion zugunsten arbeitsloser und arbeitssuchender Altparteigenossen, damit „auch der Letzte dieser Vorkämpfer für das Dritte Reich, die erst durch ihren tätigen Einsatz die Voraussetzungen zu dem heutigen Wirtschaftsaufschwung geschaffen haben, dessen teilhaftig wird, wofür er gekämpft hat: Arbeit und Brot!“ Wie viele versorgungsbedürftige „letzte Vorkämpfer“ es drei Jahre nach der nationalsozialistischen Machtübernahme noch gab, verdeutlicht eine vom badischen Gaupersonalamt angefertigte Liste, die allein für den Kreis Heidelberg 71 Interessenten aufführt.

Quelle: GLA 235 1699

 

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„Die NSDAP ist eine Hure, der Staat ihr Zuhälter“ – Die Wut der Therese Oetzel und ihre tragischen Folgen

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Schreiben Therese Oetzels an den badischen Reichsstatthalter Robert Wagner vom 9. Februar 1938 (GLA 507 7732) | Klicken zum Vergrößern

Am 9. Februar 1938 gab die 48jährige Karlsruherin Therese Oetzel mehrere Briefe bei der Post auf, die an verschiedene Staats- und NSDAP-Parteistellen gerichtet waren, darunter die Reichskanzlei in Berlin und die badische Reichsstatthalterei. Das kurze an den Reichsstatthalter und badischen Gauleiter der NSDAP Robert Wagner gerichtete Schreiben nahm zunächst Bezug auf den bevorstehenden Zusammentritt des Reichstags, in den Wagner wiedereinziehen werde, um dem „Führer Sieg Heil!“ zuzurufen. Oetzel selbst rief Wagner zu: „Sie sind ein Verräter an der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei oder aber nicht fähig den Gau Baden zu regieren. Letzteres ist der Fall“. Sie erklärte „an Eides statt: Die NSDAP ist eine Hure, der Staat ihr Zuhälter“. Die Schlusssätze des Schreibens lauteten: „Wagen Sie es nicht mich anzutasten, nicht, weil ich mich etwa davor fürchte, sondern weil mein Kind darüber zerbrechen würde. Dieses Kind, das sich am 25.26.u.27.Febr. 1936 selbst auf den Altar des Vaterlandes gelegt hat. Sein Leben gehört Gott und dem Führer“.

In der Reichsstatthalterei reagierte man hierauf offensichtlich erst, als von der Reichskanzlei ein ähnliches Schreiben Oetzels nach Karlsruhe übermittelt wurde – zusammen mit einigen Anlagen, aus denen sich erahnen ließ, was die Briefschreiberin dazu veranlasst hatte, Wagner in dieser ungewöhnlichen Form anzusprechen. Der Sendung nach Berlin nämlich waren einige Briefabschriften beigefügt, zuvorderst ein Schreiben Therese Oetzels vom Dezember des Vorjahres an den Karlsruher Professor für Textil- und Gewerbechemie Egon Elöd, dem sie in grob ausfälliger Form vorwarf, ihrem Mann gegenüber Patentdiebstahl begangen zu haben. Da dieser, der frühere Möbelfabrikant Julius Oetzel, ein „Schwerkranker“ sei und „kampfunfähig zur Zeit“, habe sie für ihn „das Schwert ergriffen“, so die Ehefrau im Brief an Elöd, den sie wie folgt titulierte: „der abgefeimteste Schurke auf Gottes Erdboden, der ausgekochteste unter den Juden, ein Lügner, Betrüger und Hochstabler grössten Formats. […] Sie nennen sich: Professor von Weltruf. Ich nenne Sie: Den Teufel in der Person. Der Ritter ohne Furcht und Tadel ist Jul. Oetzel, Sie sind der Satan mit seinem ganzen Aufgebot, der leibhaftige Jude“. Als Beleg für diese Zuschreibung machte sie geltend, dass Elöd sich die „Jüdin Klopstock“ als „Hausfreundin“ halte, und auch seine Tochter wurde zur Zielscheibe moralischer Empörung, da sie „Ehebruch in der eigenen elterlichen Wohnung treibe“.

Der sachliche Hintergrund der verbalen Eskalation erschloss sich aus mehreren in Abschrift beigefügten Briefen Julius Oetzels an einen Karlsruher Ratsherrn, den „Ausschuss für Technik in der Forstwirtschaft“ und an das „Sozialamt Erfinderschutz beim Zentralbüro der Deutschen Arbeitsfront“, in denen er jeweils darüber klagte, dass sich Elöd die Patentrechte an einem Werkstoff zur Kunstholzproduktion gesichert habe, die eigentlich ihm zustünden. Schon durch die unverschuldete Insolvenz seiner Möbelfabrik im Jahr 1926 wirtschaftlich schwer geschädigt, habe er in den zurückliegenden Jahren mehrere Tausend Reichsmark in die Werkstoffentwicklung investiert und sei nun durch Elöds Betrug „wirtschaftlich vollständig ruiniert“. Zum 1. April 1938 werde er „mittel- wohnungs- und arbeitslos“ dastehen, ohne dass eine der Stellen, an die er sich bisher gewandt habe, auch nur bereit gewesen sei, seine Ansprüche zu prüfen.

Aus dem von der Reichskanzlei an die Reichsstatthalterei übermittelten Konvolut war unschwer zu erkennen, dass nach Julius Oetzel, der sich wegen eines Nervenzusammenbruchs im Krankenhaus befand, nun auch seine Ehefrau auf die großen wirtschaftlichen Sorgen der Familie mit einer psychischen Krise reagiert hatte. Dies meinte auch der geschäftsführende Beamte in der Reichsstatthalterei Alexander von Dusch, als er den Vorgang dem badischen Generalstaatsanwalt Ernst Lautz zuschickte mit dem Hinweis, dass gegen Therese Oetzel bei der Staatsanwaltschaft bereits eine Anzeige wegen Beleidung Elöds anhängig sei. Dusch nahm an, „dass die Unterbringung der Frau Oetzel in eine Psychiatrische Klinik zur Beobachtung auf ihren Geisteszustand angeordnet werden wird“. Alternativ stellte er Ernst Lautz anheim, „die Angelegenheit an den Herrn Minister des Innern wegen Unterbringung der Frau Oetzel in eine Anstalt aus Gründen des öffentlichen Interesses weiterzugeben“.

Ernst Lautz während der Nürnberger Prozesse (United States Army Office of the Chief of Counsel for War Crimes, U. (1946), Harvard Library) | Klicken zum Vergrößern

Auf Seiten der Justiz wertete man den Vorfall jedoch nicht als Krankheitssymptom; stattdessen wurde die Strafbarkeit des Briefes an den Reichsstatthalter geprüft. Hiermit beauftragte Ernst Lautz den Oberstaatsanwalt beim Sondergericht in Mannheim, da als Delikt vorrangig ein in dessen Zuständigkeit fallender Verstoß gegen das sogenannte Heimtückegesetz in Frage kam. Vom Sondergericht wurde dann an den Karlsruher Oberstaatsanwalt am 19. März 1938 die Frage gerichtet, ob bereits ein Haftbefehl ergangen und ein Gutachten über den Geisteszustand Therese Oetzels eingeholt worden sei, und zugleich die Karlsruher Gestapoleitstelle zur Aufklärung des Sachverhalts aufgefordert. In der Tat war die Briefschreiberin bereits am 14. März von der Karlsruher Kriminalpolizei verhaftet, aber vier Tage später wieder auf freien Fuß gesetzt worden, nachdem „sie gegenüber dem Herrn Staatsanwalt Lingelsleben eine schriftliche Erklärung abgegeben hatte, dass sie nichts mehr gegen den Prof. Elöd unternehmen wolle“.

Die vom Staatsanwalt beim Sondergericht nun ins Spiel gebrachte Gestapo interessierte sich indes nicht für die Beleidigungen gegen Elöd, sondern für die jüngsten Schimpftiraden gegen den Reichsstatthalter und lud Oetzel am 25. März zu einer Vernehmung in der Karlsruher Staatspolizeileitstelle. Dort bekannte Oetzel, den Brief an Wagner geschrieben zu haben, und bereute dies sehr, da sie einsehe, „damit die Grenzen des Erlaubten überschritten“ zu haben. „Ich möchte aber nochmals betonen, dass ich alle diese Briefe, so unter anderem auch den Brief an den Herrn Ministerpräsidenten Köhler, in dem ich den Staat der Rassenschande verdächtigt habe, die von der NSDAP gedeckt wird, in meiner Verzweiflung geschrieben habe“. Ihren brieflichen Ausführungen nachträglich Sinn zu unterlegen, fiel Oetzel schwer: „Unter dem Begriff ‚Die NSDAP ist eine Hure‘ habe ich, wie ich das niedergeschrieben habe, mir folgendes gedacht: Da die Tochter des Elöd, die einen ausschweifenden Lebenswandel führt, einigemale vom Herrn Reichsstatthalter empfangen worden ist, während mein Mann, der mit einer wichtigen Erfindungssache, bei der es sich um Sein oder Nichtsein drehte, vom Herrn Reichsstatthalter nicht empfangen wurde, sondern ihm schriftlich mitgeteilt wurde, er solle sich an das Wirtschaftsministerium wenden. Dass der Staat von mir als Zuhälter bezeichnet wurde, ist ohne Begründung geschehen, ich habe es lediglich dazu geschrieben. Dass der Staat Rassenschande betreibt, habe ich darin erblickt, dass die Familie Elöd einen regen jüdischen Verkehr unterhält und dass Elöd trotzdem vom Staat geholfen wird, während mein Ehemann, der seit 1930 in der NSDAP ist, keine Hilfe findet und überall auf Widerstand stößt“.

Den desolaten Eindruck, den Oetzel bei dem Verhör hinterließ, fand der ermittelnde Kriminaloberassistent durch ihm zugetragene Mitteilungen bestätigt, nämlich „dass die Oetzel mit ihren Nerven sehr herunter sein soll. Sie wird als hysterisch bezeichnet“. Sonst sei ihr Leumund gut: „Frau Oetzel selbst gehört der Partei oder einer ihrer Gliederungen nicht an. Es konnte festgestellt werden, dass sie vor der Machtübernahme eine eifrige Anhängerin der Partei war. Als es ihr dann wirtschaftlich immer schlechter ging und ihr Ehemann bei seinen Bewerbungen abgewiesen wurde, soll ihr Interesse für die Bewegung merklich abgeflaut sein“. Ihre Reue hielt der Ermittlungsbeamte für aufrichtig: Die Beschuldigte habe eingesehen, „dass sie in ihren Schreiben zuweit gegangen ist und Partei- und Staatsstellen zu Unrecht angriffen hat“. Nichtsdestoweniger leitete die Gestapo die Akten an das Sondergericht in Mannheim weiter und lieferte Oetzel in den Mittagsstunden des 25. März 1938 in das Karlsruher Bezirksgefängnis ein. Dort wurde sie am frühen Morgen des nächsten Tages in ihrer Zelle erhängt aufgefunden – es habe sich um eine Selbsttötung ohne „ein Verschulden Dritter“ gehandelt, so die Mitteilung an den Mannheimer Oberstaatsanwalt vom 28. März.

Mitteilung an den Mannheimer Oberstaatsanwalt vom 28. März 1938 über Suizid Oetzels (GLA 507 7732) | Klicken zum Vergrößern

Die Frage nach Recht und Unrecht stellt sich in diesem Fall nicht, da das 1933/34 geschaffene Heimtückegesetz und die zu seiner Durchsetzung errichtete Sondergerichtsbarkeit außerhalb der Grenzen dessen lagen, was als rechtsstaatlich gelten kann. Sehr wohl aber lässt sich diskutieren, wer die Verantwortung dafür trug, dass eine unter akuten psychischen Störungen leidende Frau durch die zweimalige Einlieferung ins Gefängnis in eine so große Drucksituation geriet, dass sie Selbstmord beging. Hier wäre zunächst der leitende Beamte der badischen Reichsstatthalterei von Dusch zu nennen, der die Justiz mit dem Fall befasste anstatt das Schreiben Oetzels auf sich beruhen zu lassen. Immerhin hatte Dusch dabei ein Prozedere vorgeschlagen, das möglicherweise die Eskalation zum Suizid hätte verhindern können, nämlich die Unterbringung Oetzels in einer Psychiatrischen Klinik. Dass dies nicht geschah und Oetzel wie jede und jeder andere Beschuldigte in einem Heimtückeverfahren behandelt wurde, hatten die beteiligten Polizei- und Justizstellen zu verantworten.

 

Quelle: GLA 507 7732

 

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Das „Dirnentum [tritt] heute noch stark in Erscheinung“ – Notizen zu einer Polizeiaktion gegen Prostituierte und Zuhälter in Mannheim und Karlsruhe, 1934

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Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten voom 18. Februar 1927, in: RGBl. I/9, 1927, S. 61ff., hier: S. 61 | Klicken zum Vergrößern

Am 16. Juni 1934 wandte sich das badische Innenministerium mit einem Schreiben, die „Bekämpfung des Dirnentums und der Zuhälterei“ betreffend, an die Polizeipräsidien Mannheim und Karlsruhe sowie an die Bezirksämter und Polizeidirektionen Heidelberg, Freiburg, Pforzheim, Baden-Baden, Lörrach und Konstanz. In diesem Schreiben konstatierte der Innenminister, dass bisher keine umfassenden polizeilichen Maßnahmen gegen das Prostitutionsgewerbe ergriffen worden waren, da man auf eine grundlegende Änderung des seit 1927 gültigen Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten durch die Reichsregierung gehofft und gewartet hatte. Da allerdings mit einer solchen Gesetzesänderung „in allernächster Zeit“ wohl nicht zu rechnen sei, könne man nun unter Berücksichtigung des „stark einsetzenden Sommerfremdenverkehr[s]“ mit einem verstärkten Zugriff auf das Milieu nicht mehr warten.

Das Gesetz zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten aus dem Jahre 1927 war das Ergebnis einer seit dem Ersten Weltkrieg währenden Diskussion um die Möglichkeiten der Eindämmung und Verhütung von Geschlechtskrankheiten. Es hatte im Wesentlichen die ärztliche Behandlungspflicht von an einer Geschlechtskrankheit leidenden Person sowie den Schutz noch nicht infizierter Personen bestimmt, ferner den Ausbau von Beratungsstellen und die Liberalisierung von Schutzmitteln festgelegt. Grundlegende Forderungen des Gesetzes waren die Aufhebung der Reglementierung und damit der Kasernierung der Prostitution, das heißt die Abschaffung von staatlichen und polizeilichen Kontrollmaßnahmen gegenüber dem Milieu sowie die Beendigung von Wohnbeschränkungen für Prostituierte auf bestimmte Häuserblocks oder Straßenzüge. Bordelle mussten schließen, und die Überwachung von Prostituierten war fortan eine gesundheitsbehördliche Angelegenheit. Das Gesetz wurde, kaum dass es in Kraft war, von verschiedenen Seiten und insbesondere der Polizei stark kritisiert und regelrecht angefeindet. Auch unter dem nationalsozialistischen Regime bestand das Gesetz weiter, dennoch sahen gerade die Angehörigen der Polizeibehörden in den neuen Machthabenden diejenigen, die das unliebsame Gesetz abschaffen und ihnen wieder vermehrt Handlungsmacht auf dem Gebiet der Kontrolle der Prostitution einräumen würden. Die Nationalsozialisten schafften das Gesetz aber tatsächlich nicht ab; sie verschärften allerdings durch das Gesetz zur Abänderung strafrechtlicher Vorschriften vom 26. Mai 1933 den § 361, 6 Reichsstrafgesetzbuch (RStGB), in dem seit 1871 die Regelungen zur Prostitution festgeschrieben waren. Dieser drohte nun nach seiner Modifizierung Haft für diejenige Person an, die „öffentlich in auffälliger Weise oder in einer Weise die geeignet ist, einzelne oder die Allgemeinheit zu belästigen, zur Unzucht auffordert oder sich dazu anbietet“. Hiermit hatten die Polizeibehörden wieder eine freiere Handhabe, um gegen Angehörige des Prostitutionsgewerbes vorzugehen, denn es lag ab sofort im Ermessensspielraum des jeweiligen Polizeibeamten, wer öffentlich „auffiel“. Herkömmliches Strafrecht war durch Polizeirecht ersetzt worden.

Schreiben des badischen Innenministers betr. Bekämpfung des Dirnentums- und der Zuhälterei (GLA Karlsruhe 234 Nr. 6643) | Klicken zum Vergrößern

Ganz in diesem Duktus ordnete das Innenministerium in seinem Schreiben vom 16. Juni an, dass in der Woche vom 22. bis 27. Juni die Kriminalpolizei unter Mithilfe der weiblichen Polizei intensiv gegen das „Unwesen“ von Prostituierten und Zuhältern einzuschreiten habe. Grundlage hierfür bildete die folgende Feststellung: „Wenn auch das Dirnentum als Erscheinung wohl nie ganz beseitigt werden kann, so muß es doch im nationalsozialistischen Staat derart zurückgedrängt werden, daß eine Belästigung der Öffentlichkeit und eine sittliche Gefährdung der Jugend unterbleibt.“ Neben der weiblichen und Kriminalpolizei sollte auch die Revierpolizei bei der Verhinderung dieser „lästigen Erscheinung des Straßenbildes“ – wie die Prostitution in vorliegendem Schreiben tituliert wird – mitwirken. Das grundlegende Instrument der polizeilichen Instanzen zum Ausspruch von Strafen gegen Angehörige des Milieus sollte der verschärfte § 361, 6 RStGB sein.

Bei der Durchführung der Aktion musste die Polizei bezüglich der fokussierten Gruppen folgendermaßen vorgehen: Für die Prostituierten sollte in allen Fällen, „in denen die gesetzlichen Voraussetzungen“, das heißt die Straftatbestände des § 361, 6 RStGB erfüllt waren, richterliche Entscheidung über die Möglichkeit der Unterbringung betreffender Frauen in einem Arbeitshaus beantragt werden. Die Arbeitshausverbringung konnte auf Basis des § 42 d, Absatz 1 und 2 RStGB in der Fassung des Gesetzes über Maßnahmen der Sicherung und Besserung vom 24. November 1933, des sogenannten Gewohnheitsverbrechergesetzes, bestimmt werden. Im Zuge dessen sollten insbesondere die Wohnungsverhältnisse der Prostituierten in Hinblick auf Abschnitt 6 a und b des § 361 überprüft, folglich jener Sachverhalt festgestellt werden, ob Prostituierte in der Nähe von Kirchen oder Schulen beziehungsweise Örtlichkeiten, an denen sich Jugendliche zwischen drei und 18 Jahren aufhalten könnten, ihrem „Unzuchtsgewerbe“ nachgehen. Waren jene Optionen, die der § 361, 6 RStGB bot, nicht hinlänglich, um eine „Dirne“ ins Arbeitshaus einliefern zu lassen, konnte auch „in beschränktem Umfange“ von der polizeilichen Festnahme auf Grundlage von § 1 der Verordnung zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933 Gebrauch gemacht werden – allerdings nur insoweit eine Unterbringung der Prostituierten in den örtlichen Gefängnissen einzurichten war.

Bezüglich jener Männer, die der Zuhälterei verdächtigt wurden, sollte, „soweit der Nachweis einer strafbaren Handlung nicht erbracht“ werden und damit Einweisung ins Gefängnis erfolgen konnte, ein Antrag beim Landeskriminalpolizeiamt auf Verbringung in das Arbeitshaus Kislau gestellt werden. Ausländische Prostituierte und Zuhälter waren unter Rückbezug auf das Gesetz über Reichsverweisungen vom 23. März 1934 zu exilieren. Das Schreiben des Innenministers betonte überdies explizit die Notwendigkeit einer engen Zusammenarbeit zwischen Polizei und der jeweils zuständigen Gesundheitsbehörde bei der Überprüfung der Prostituierten und Zuhälter. Grund hierfür: Die Gesundheitsbehörden hatten ihrerseits, seit Inkrafttreten des Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten und durch die Übernahme der gesundheitlichen Betreuung von Prostituierten, umfängliches Datenmaterial über betreffende Personen sammeln können, Informationen, die nun für die Polizei speziell bei der Ermittlung von prostitutionsverdächtigen Frauen von großem Interesse waren.

Verordnung zur Bekämpfung der Gewerbsunzucht vom 19. August 1933, in: Badisches Gesetz- und Verordnungsblatt 58, 1933, S. 161 | Klicken zum Vergrößern

Im August desselben Jahres wurden dem Innenministerium dann die Ergebnisse der Aktion vom 22. bis 27. Juni weitergeleitet: Diese hatte ergeben, dass in Mannheim und Karlsruhe das „Dirnentum heute noch stark in Erscheinung tritt“, obschon sich die Verhältnisse in der letzten Zeit „gebessert“ hätten. Die Wohnungen der Prostituierten seien bei der Razzia „eingehenden Kontrollen“ unterzogen worden. Ferner wurde festgehalten, dass insbesondere in Karlsruhe massiv gegen das „Zuhältereiunwesen“ vorgegangen werde. Als Diskussionspunkt benannte der Bericht die Tatsache, dass einzelne Städte mit ihren Dienststellen, so auch Mannheim und Karlsruhe, wieder dazu übergegangen seien, „die Dirnen nur in einer bestimmten Strasse wohnen zu lassen“, also die Kasernierung der Prostitution wieder eingeführt hatten, was eigentlich auf Basis des noch bestehenden Geschlechtskrankheitengesetzes untersagt war. Für Mannheim handelte es sich hier um die Gutemannstraße in der Neckarstadt-West, und für Karlsruhe um die im Stadtteil „Dörfle“ gelegenen Straßen, unter anderem die „Entenstraße“. Über den Umstand der zum Teil auf lokaler Ebene wiedereingerichteten Wohnbeschränkungen der Prostituierten sollte in Verhandlungen mit betreffenden Städten getreten werden. Ebenso betonte der Bericht, dass gerade in als „Massagesalons“ getarnten Prostitutionsbetrieben die Zustände „äusserst sittenwidrig“ seien. Diesbezüglich seien allerdings schon im Juli zu ergreifende Regelungen formuliert und veranlasst worden.

Insgesamt befand der Bericht, dass die bislang ergriffenen Maßnahmen eine Gewähr dafür bieten würden, „dass das Dirnentum sich nicht noch weiter ausbreitet“, sondern dieses bereits eher im Abnehmen begriffen sei. Abschreckend habe das energische Vorgehen in Bezug auf das „unsittliche“ Gewerbe und die bis jetzt ausgesprochenen hohen Zuchthausstrafen gegen Zuhälter gewirkt. Für die Zukunft wurde formuliert, dass man auch weiterhin „unvermutete Kontrollen“ durchführen wolle, um letztlich das „Dirnentum“ in der Form zurückzudrängen, dass „es nicht mehr in Erscheinung tritt.“

Quelle: GLA Karlsruhe 234 Nr. 6643

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Unrechtsstaat und nationalsozialistische Vetternwirtschaft: Wie Innenminister Pflaumer das enteignete Vermögen der Arbeiterbewegung zur Protektion des Gestapochefs Berckmüller missbrauchte

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Der badische Innenminister Karl Pflaumer (GLA Karlsruhe 465 a/51 Nr. 68/1032) | Klicken zum Vergrößern

Zurecht wird die Herrschaft des Nationalsozialismus mit einer Politik der Willkür, Korruption, Unterdrückung und Gewalt verbunden. Der NS-Staat gilt deshalb als Symbol für den Unrechtsstaat schlechthin. In der täglichen Herrschaftspraxis lässt sich indes bei vielen wichtigen Akteuren des nationalsozialistischen Systems wie den Landesministern ein eigentümliches Nebeneinander der Orientierung an bestehenden Regeln, Normen und Gesetzen einerseits und gesetzloser Willkür andererseits beobachten. Das Verhalten des badischen Innenministers Pflaumer (NSDAP) ist hierfür ein gutes Beispiel: In bestimmten Bereichen bestand er auf der Beachtung bestehender Normen und versuchte, den Missbrauch politischer Macht durch die NSDAP einzudämmen sowie eine zu weitreichende Usurpation des Staates durch die Partei zu verhindern. In der Personalpolitik insistierte Pflaumer beispielsweise oftmals auf der Einhaltung der Beamtenlaufbahn und behielt fähige, erfahrene Beamte im Amt, auch wenn die NSDAP große Zweifel an deren politischer Zuverlässigkeit hatte. Desgleichen schritt Pflaumer entschieden dagegen ein, wenn leitende Beamte, die gleichzeitig ein führendes Amt in der Partei bekleideten, die Teilnahme an Veranstaltungen der NSDAP und die Wahrnehmung von parteiamtlichen Funktionen in ihre Dienstzeit legten. Ebenso bestand er darauf, dass Fehlzeiten von badischen Beamten, die durch deren Teilnahme an Schulungskursen oder Lehrgängen der Partei und ihrer Unterorganisationen entstanden waren, im vorgeschriebenen Umfang auf den Jahresurlaub angerechnet wurden.

In anderen Bereichen hatte Pflaumer hingegen keine Skrupel, rechtsstaatliche Prinzipien zu brechen und eine Politik des offenen Unrechts zu propagieren. Ein Beispiel dafür ist die Beschlagnahmung „marxistischen“ Vermögens durch das badische Innenministerium – ein klarer Akt willkürlicher Enteignung, der nur notdürftig durch scheinlegale Verordnungen und Erlasse kaschiert wurde. Wie die folgende Episode zeigt, verknüpfte Pflaumer dabei die aus der Verwertung des Vermögens erzielten Gelder mit einer Politik der persönlichen Patronage, die dann ihrerseits die Tendenz zur Missachtung rechtsstaatlicher Prinzipen auf anderen Gebieten verstärkte.

Die Enteignung des Vermögens der Arbeiterbewegung setzte bereits in den ersten Wochen nach der Machtübernahme der NSDAP in Baden am 9. März 1933 ein. Sie lief parallel zur Verhaftung, Internierung und Folterung zahlreicher badischer Kommunisten und Sozialdemokraten. Noch unter der kommissarischen Leitung des Innenministeriums durch Gauleiter Robert Wagner wurden die ersten Maßnahmen auf diesem Feld eingeleitet. Als Wagner am 17. März 1933 im Zuge der so genannten Nußbaum-Affäre sämtliche badischen Landtags- und Reichstagsabgeordneten von SPD und KDP verhaften ließ, die Zeitungen der SPD verbot und alle Wehr- und Jugendverbände von SPD und KPD wie die Eiserne Front, das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold oder den Kommunistischen Jugendverband Deutschlands auflöste, ordnete er in dem gleichen Erlass auch die Beschlagnahmung des Vermögens der „marxistischen“ Verbände an. Zwei Wochen später, am 30. März 1933, erklärte Wagner auch die „marxistischen Turn-, Sport- und Kulturvereine“ für aufgelöst; auch deren Vermögen wurde komplett beschlagnahmt. In einem weiteren Erlass vom 13. April 1933 verfügte er außerdem, dass das Vermögen der Arbeiterverbände und -vereine nunmehr dem Land Baden zufalle.

Der groß angelegte Raubzug am Eigentum der Arbeiterbewegung ging auch nach der Übernahme des Innenministeriums durch Pflaumer am 6. Mai 1933 weiter. Am 10. Mai 1933 nutzte Pflaumer einen vermeintlichen Korruptionsfall der freien Gewerkschaften in Konstanz, in den angeblich auch SPD-Mitglieder verwickelt waren, als Vorwand zur Beschlagnahmung des gesamten Vermögens der SPD und der sozialdemokratischen Zeitungen. Den Endpunkt der Maßnahmenkette bildete ein Funkspruch des Generalstaatsanwalts beim Landgericht 1 in Karlsruhe vom 12. Mai 1933, der kurzerhand das gesamte Vermögen der badischen Gewerkschaften für beschlagnahmt erklärte.

Erlass Robert Wagners zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen vom 13. April 1933 (GLA 380 Nr. 7353) | Klicken zum Vergrößern

Nachdem auf diese Weise das Vermögen der badischen Arbeiterbewegung, das unzählige Konten, Einrichtungsgegenstände und Gebäude umfasste, unter Kontrolle des badischen Staates geraten war, setzte unmittelbar danach ein Wettrennen um die Filetstücke des früheren Eigentums der Arbeiterbewegung ein. Auch hierfür schuf ein pseudolegaler Akt frühzeitig die scheingesetzliche Grundlage: In dem erwähnten Erlass vom 13. April 1933 hatte Wagner verkündet, dass das Vermögen der „marxistischen“ Parteien und Organisationen an Verbände überlassen werden solle, die „hinter der nationalen Regierung stehen“. Noch im Mai 1933 teilten die Deutsche Arbeitsfront und die Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisationen (NSBO) das Vermögen der Gewerkschaften unter sich auf, während sich die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) und die badischen Sonderkommissare für Gesundheitsfragen und Jugendpflege die Immobilien und Gegenstände des Arbeitersamariterbundes bzw. der Naturfreunde sicherten. Die so genannten Gliederungen der Partei wie SA, Hitler-Jugend und SS, aber auch der „Stahlhelm“ meldeten ebenfalls Ansprüche auf bestimmte Gebäude und Gegenstände an, wie etwa die Turngeräte der Arbeitersportvereine oder die Hütten der „Naturfreunde“.

Koordiniert wurden die Aktionen, die zunächst überwiegend auf dezentraler Ebene erfolgten, durch das badische Innenministerium. Frühzeitig hatten Pflaumer und seine Ministerialbeamten etwa die genaue Erfassung des Vermögens der SPD angeordnet und Musterbögen für die Bezirksämter entworfen, die ein systematisches und einheitliches Vorgehen bei den Enteignungen ermöglichen sollten. Anfang August 1933 wurde schließlich im Innenministerium eine eigene Treuhandstelle für die „Verwaltung marxistischen Vermögens“ geschaffen, die das Eigentum der Arbeiterbewegung fortan zentral von Karlsruhe aus verwaltete. Sie war zunächst bei zwei Regierungsassessoren in den Bezirksämtern Karlsruhe und Durlach angesiedelt. Am 31. Januar 1934 erfolgte eine Anordnung an die Bezirksämter, die bisher von ihnen verwalteten Gelder auf ein zentrales Konto des Innenministeriums zu überweisen. 1937 wurde die Treuhandstelle dem stellvertretenden Gestapochef Walter Späth übertragen und in das Ministerium des Innern verlegt; der Prozess der Zentralisierung war damit vollendet. Weit vor der „Arisierung“ des jüdischen Vermögens durch den badischen Staat nach der Deportation der badischen Juden nach Gurs am 22. Oktober 1940 profitierte dieser also bereits 1933 im großen Stil von der Entrechtung politisch oder rassisch Verfolgter; die Enteignung des Vermögens der Arbeiterbewegung kann deshalb als Übung und Probelauf für die späteren „Arisierungen“ angesehen werden.

Wofür das Geld unter anderem verwendet wurde, illustriert ein Vorgang aus dem Jahr 1935, der den Leiter der badischen Gestapo Karl Berckmüller betraf. Berckmüller, ein „Alter Kämpfer“ und Intimus Wagners, hatte schon bei seiner Einsetzung als Chef des Badischen Geheimen Staatspolizeiamts im November 1933 deutlich gemacht, dass er es als selbstverständlich ansehe, wenn ein „verdienter“ Nationalsozialist wie er eine Sonderbehandlung erfahre. Protegiert von Pflaumer, wurde der aus der Privatwirtschaft stammende Berckmüller, der keinerlei Verwaltungserfahrung vorweisen konnte, nicht nur unter Missachtung sämtlicher beamtenrechtlicher Vorschriften und Gepflogenheiten als Regierungsrat eingestuft. Ihm wurden auch acht Jahre Vordienstzeit auf das Besoldungsdienstalter angerechnet, was für die spätere Anerkennung und Berechnung von Pensionsansprüchen von erheblicher Bedeutung war. Diese Praxis erfolgte gegen die Bedenken des Ministerpräsidenten Walter Köhler (NSDAP), der in einem persönlichen Schreiben an Pflaumer vom 23. November 1933, das er in seiner Eigenschaft als Finanzminister verfasste, auf die enormen Gefahren dieser extremen Bevorzugung Berckmüllers hinwies: Ein solcher Vorgang könne entsprechende Forderungen von anderen Beamten nach sich ziehen. Nur „mit Rücksicht auf die hier vorliegenden besonderen Verhältnisse (vermutlich eine Anspielung auf Berckmüllers starke Position und Vernetzung innerhalb der NSDAP, R.N.)“ könne ausnahmsweise eine solche Regelung getroffen werden.

Auszug aus dem Schreiben Pflaumers vom 2. Dezember 1936 mit einem Hinweis auf besondere Ausgaben für Sachmittel im Polizeibereich (GLA 233 Nr. 25859) | Klicken zum Vergrößern

Mit dieser raschen Beförderung und der ebenso großzügigen wie illegalen Anrechnung der Vordienstzeiten – sie stand nur Beamten, aber nicht Personen aus der Privatwirtschaft zu – gab sich Berckmüller jedoch nur kurzzeitig zufrieden. Anfang 1935 forderte er kategorisch seine vorzeitige Ernennung zum Oberregierungsrat und verlangte überdies ein zusätzliches „Aufwandsgeld“ in Höhe von 400 Reichsmark jährlich. Doch scheiterten beide Forderungen am badischen Finanz- und Wirtschaftsministerium, das die Einstellung einer zusätzlichen Oberregierungsratsstelle in den Haushalt des Innenministeriums ablehnte und aus grundsätzlichen haushaltsrechtlichen Erwägungen heraus auch die Zahlung eines jährlichen Aufwandsgelds verweigerte.

Um sich aus der Zwickmühle zu befreien, in die Berckmüller die badische Landesregierung mit seinem bestimmten Auftreten gebracht hatte, einigten sich Pflaumer und Köhler auf folgende Lösung: Berckmüller erhielt kurzer Hand aus dem Treuhandfonds für marxistisches Vermögen eine monatliche Sondervergütung von 100 Reichsmark. Die Gelder aus der Verwertung marxistischen Vermögens dienten also als „Schwarze Kasse“, mit deren Hilfe die Differenz zwischen der Besoldung eines Regierungsrats und eines Oberregierungsrats ausgeglichen werden konnte. Doch nicht nur das: Aus dem Schriftwechsel zwischen dem Innen-, Staats- und Finanzministerium über die Gewährung einer Sonderzulage an Berckmüller geht indirekt hervor, dass aus dem Sondertopf für marxistisches Vermögen darüber hinaus besondere Ausgaben für Sachmittel im Polizeibereich finanziert wurden, ohne dies im offiziellen Haushalt auszuweisen.

Die großzügige Vergabe von Eigentum der Arbeiterbewegung an „nationale“ Verbände und die dubiose Finanzierung von Personal- und Sachausgaben aus dem ehemaligen „marxistischen“ Vermögen zog indes bald weitere Kreise, denn damit hatte Pflaumer Fakten geschaffen, hinter die er nicht mehr zurückkonnte. Dies offenbarte sich ein Jahr später, als die seit der Enteignung der Arbeiterbewegung im Jahr 1933 im Raum stehende Frage, wie mit den Ansprüchen von Gläubigern „marxistischer“ Vereine umzugehen sei, aufgrund verschiedener Gerichtsverfahren zu einer Entscheidung drängte. Um eine einheitliche Regelung im ganzen Reich zu treffen, fragte der Reichsinnenminister deshalb am 22. Oktober 1936 in einem Rundschreiben bei den Landesregierungen an, ob man dort die Rechte der Gläubiger für erloschen halte. Durch die im großen Stil betriebene Verwertung „marxistischen“ Vermögens befand sich Pflaumer nun in einem Dilemma: Da er diese Maßnahmen nicht rückgängig machen konnte und wollte, sah er sich gezwungen, weiteres Unrecht zu legitimieren.

Dementsprechend unmissverständlich fiel seine Antwort an den Reichsinnenminister aus: Die Ansprüche Dritter, so Pflaumer in einem Schreiben vom 2. Dezember 1936, hätten auf jeden Fall als erloschen zu gelten, denn insbesondere die Rechte, die auf den eingezogenen Grundstücken ruhen würden, hätten in der Praxis bei der Verwertung des volks- und staatsfeindlichen Vermögens große Schwierigkeiten bereitet. Zudem seien eine ganze Reihe dieser beliehenen Grundstücke und Gebäude in einer Art und Weise bebaut, dass als Interessenten nur ganz bestimmte Stellen in Frage gekommen seien, nämlich die Hitler-Jugend, die NSV, SA und SS, der Jugendherbergsverband und die Sportvereine. Dies aber seien Organisationen, deren Arbeit im Interesse der Volksgemeinschaft und der Volksgesundheit liegen würde, die gleichzeitig jedoch nicht über die erforderlichen Mittel zum Erwerb etwa der Grundstücke verfügten. Außerdem habe er bereits mit Zustimmung des Finanz- und Wirtschaftsministers über 200.000 Reichsmark aus dem Erlös der Verwertung „marxistischen“ Vermögens für außerordentliche Zwecke des Polizeihaushalts verwendet. In Baden sei es folglich bislang nur in ganz seltenen Fällen zur Befriedigung von Gläubigern aufgelöster marxistischer Organisationen gekommen. Diese Regelung empfehle er auch in Zukunft beizubehalten. Allenfalls sei eine Härtefallregelung denkbar, bei der das Land aber das Recht behalten müsse, frei und nach eigenem Ermessen zu entscheiden.

Reichsgesetz über die Gewährung von Entschädigungen bei der Einziehung oder dem Übergang von Vermögen vom 9. Dezember 1937.

Wie die willkürliche Enteignung des Eigentums der Arbeiterbewegung und dessen Missbrauch zur Bedienung von Privilegien für führende badische Nationalsozialisten zeigen, verstanden es die nationalsozialistischen staatlichen Akteure recht virtuos, je nach Interessenlage zwischen der Orientierung an legalistischem „Normenstaat“ und willkürlichem „Maßnahmenstaat“ (Ernst Fraenkel) zu changieren. In der konkreten Herrschaftsausübung bestimmte also ein spezifisches Nebeneinander beider Orientierungen das alltägliche Handeln. Allerdings zeigen diese Vorgänge auch, dass die „maßnahmenstaatlichen“ Handlungen, wie sie die Konfiszierung des Vermögens der Arbeiterbewegung verkörperte, in einen Bereich zu diffundieren drohten, in dem dies eigentlich nicht gewünscht war, da er das Rechtsempfinden des Bürgertums herausfordern musste, nämlich der Frage der bürgerlichen Eigentumsrechte. In der politischen Praxis wurden hier deshalb oftmals pragmatische Mittelwege beschritten. So sah das am 9. Dezember 1937 erlassene Reichsgesetz „über die Gewährung von Entschädigungen bei der Einziehung oder dem Übergang von Vermögen“ vor, dass die Rechte der Gläubiger zwar für erloschen erklärt wurden. Doch beinhaltete es gleichzeitig einen Anspruch auf Entschädigung.

Dies allerdings war eine Lösung, die Pflaumer ausdrücklich nicht befürwortet hatte, hatte er doch die Entschädigung von Gläubigern „marxistischen“ Vermögens unter Verweis auf die in Baden geschaffenen Tatsachen abgelehnt. Nicht immer war Pflaumer mithin jener unideologische Pragmatiker, als der er sich nach dem Krieg gerne gerierte.

Quellen: GLA 233 27894; 233 25859; 380 3753; StAF B 719/1 5096.

 

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Justizbehördliche Erinnerungskultur im Wandel: Eine aus der Zeit gefallene Gedenktafel im Bundesgerichtshof

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Bundesrichter und Präsident des BGH Hermann Weinkauff 1951 (Bundesarchiv, B 145 Bild-F050216-0036 / CC-BY-SA 3.0)

Seit geraumer Zeit schwelt eine geschichtspolitische Kontroverse um eine Gedenktafel im Bundesgerichtshof, die an „34 Mitglieder des Reichsgerichts und der Reichsanwaltschaft“ erinnert, „die in den Jahren 1945 und 1946 in den Lagern Mühlberg an der Elbe und Buchenwald umgekommen sind“. Angebracht wurde die Tafel im Jahr 1957, um, wie es der damalige Präsident des Bundesgerichtshofs Hermann Weinkauff formulierte, „der unschuldigen Opfer und der Märtyrer des Unrechts zu gedenken und ihr Andenken zu ehren“. Diese Motive muten mehr als 60 Jahre nach Enthüllung der Gedenktafel anachronistisch an: Zwar wird man die 34 Männer in Anbetracht der katastrophalen Hygiene- und Ernährungsbedingungen in dem sowjetischen „Speziallager Nr. 1 Mühlberg“ und der dort vielfach angewandten Folter auch weiterhin für „Opfer“ halten dürfen; ob sie indes „unschuldig“ und „Märtyrer des Unrechts“ waren, ist heute wenigstens diskutabel, handelte es sich bei ihnen doch um exponierte Vertreter der nationalsozialistischen Justiz. Deshalb mag es nicht erstaunen, dass die Forderung erhoben wird, die Gedenktafel zu entfernen oder zu kommentieren – zuletzt besonders nachdrücklich von dem Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof Volkert Vorwerk.

Aus der Perspektive der südwestdeutschen NS-Landesministerialbürokratie ist zu dieser geschichtspolitischen Kontroverse nur eine Kleinigkeit beizutragen, die aber dennoch mitgeteilt sei, da sie vielleicht den Entstehungskontext der Gedenktafel im Kalten Krieg ein wenig erhellt. Dabei geht es um einen badischen Juristen, der nach der nationalsozialistischen Machtübernahme die Karriereleiter steil emporstieg, zuletzt Mitglied des Reichsgerichts war und ebenfalls 1945 in einem Internierungslager starb, ohne jedoch in der Erinnerung des Bundesgerichtshofs in den Kreis der „Märtyrer des Unrechts“ aufgenommen worden zu sein.

Bei dem auf der Gedenktafel möglicherweise nicht vergessenen, sondern bewusst ausgeklammerten badischen Juristen handelt es sich um den 1877 in Schatthausen im Kraichgau geborenen Emil Brettle, der im Justizdienst der Weimarer Republik bis zum Mannheimer Oberstaatsanwalt aufgestiegen war. Nach der Entlassung des den Nationalsozialisten politisch unerwünschten badischen Generalstaatsanwalts Karl Anton Hafner im März 1933 rückte Brettle an seine Stelle, obwohl er der NSDAP – er trat ihr erst 1937 bei – bis dahin nicht nahegestanden zu haben scheint. Den Vertrauensvorschuss, den ihm der kommissarische Leiter des badischen Justizministeriums Johannes Rupp und der seit Mai 1933 amtierende Justizminister Otto Wacker mit der Beförderung gewährt hatten, löste Brettle in der Folgezeit ein und erwies sich als ein williges Werkzeug der politischen Interessen, die die Nationalsozialisten mit der „Gleichschaltung“ der badischen Justiz verfolgten.

Über die Umstände, die 1938 zu Brettles Wechsel nach Leipzig als Oberreichsanwalt ans Reichsgericht führten, kann an dieser Stelle nichts mitgeteilt werden, da im Rahmen unseres Forschungsprojekts die südwestdeutsche Justizgeschichte nur bis zur Auflösung der badischen und württembergischen Landesjustizministerien am Jahreswechsel 1934/35 untersucht wurde. Eingesehen wurde allerdings die im Generallandesarchiv Karlsruhe überlieferte Akte von Brettles Spruchkammerverfahren, das postum durchgeführt wurde, um die Versorgungsansprüche seiner Witwe zu klären. Aus der Spruchkammerakte geht hervor, dass Brettle am 21. Juli 1945 in amerikanischer Internierungshaft im Lager Schwarzenborn bei Bad Hersfeld starb. Anders als die 34 in sowjetischer Internierungshaft gestorbenen Mitglieder des Reichsgerichts dürfte sich Brettle demnach bei Kriegsende nicht in Leipzig aufgehalten haben, sondern anderswo aufgegriffen und auf der Grundlage des sogenannten „automatic arrest“, der von allen Alliierten angewandt wurde, um die Parteikader der NSDAP und höhere Beamte des „Dritten Reiches“ bis zu einer eventuell gebotenen strafrechtlichen Belangung zu isolieren, inhaftiert worden sein.

Auszug aus Brettles Entnazifizierungsfragebogen vom 13. April 1948 (GLA 465 h Nr. 56322) | Klicken zum Vergrößern

Die näheren Umstände von Brettles Tod im amerikanischen Internierungslager Schwarzenborn sind unklar, so dass sich auch keine Aussagen darüber treffen lassen, inwiefern sein Fall mit dem der Mühlberger und Buchenwalder Internierten vergleichbar ist. Auch ist unbekannt, wie viele Angehörige des Reichsgerichts insgesamt in westalliierte Internierungshaft genommen wurden. Dies trifft jedenfalls für einen weiteren südwestdeutschen Juristen zu, den Vizepräsidenten des Reichsgericht Eugen Kolb, der 1945/46 ein Jahr im Internierungslager Hohenasperg bei Ludwigsburg verbrachte, und auch für den eingangs zitierten späteren Präsidenten des Bundesgerichtshofs Weinkauff, der 1945 als Richter des Reichsgerichts ebenfalls in amerikanische Internierungshaft geraten war. Vermutlich kannte Weinkauff das Schicksal Brettles, und vermutlich wird er auch eine Meinung dazu gehabt haben, ob die westalliierte Internierungshaft nicht ebenso ein „Unrecht“ gewesen sei wie die sowjetische. Dass die Gedenktafel im Bundesgerichtshof exklusiv an letztere erinnert, dürfte kein Zufall, sondern den politischen Zeitumständen des Jahres 1957 geschuldet sein, die es inopportun erscheinen ließen, auf vermeintliche Unrechtstaten der früheren Westalliierten und nunmehrigen Verbündeten zu verweisen.

Der Aufklärung der Vorgeschichte und des justizpolitischen Kontexts der umstrittenen Gedenktafel im Bundesgerichtshof hat dessen aktuelle Präsidentin Bettina Limperg nun den Weg bereitet: Die Badischen Neuesten Nachrichten haben am 17. März berichtet, dass der Mainzer Zeithistoriker Michael Kißener und sein rechtsgeschichtlicher Kollege Andreas Roth mit der Aufarbeitung der Geschichte des Bundesgerichtshofs beauftragt wurden und dass ein zweites Forschungsvorhaben gestartet werde, das speziell der Erinnerungskultur des Hauses gelte. Dabei werden sich nebenher auch die hier vorgetragenen Annahmen verifizieren oder falsifizieren lassen.

Erinnerungskultur am Bundesgerichtshof – ein Nachtrag

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1957 ließ der Bundesrichter und damalige Präsident des Bundesgerichtshofs (BGH) Hermann Weinkauff im ehemaligen Erbgroßherzoglichen Palais in Karlsruhe (heute Hauptgebäude des BGH) eine Gedenktafel anbringen, um an die „34 Mitglieder des Reichsgerichts und der Reichsanwaltschaft“ zu erinnern, „die in den Jahren 1945 und 1946 in den Lagern Mühlberg an der Elbe und Buchenwald umgekommen sind“. Seit geraumer Zeit wird eine Entfernung oder Kommentierung dieser Tafel gefordert, weil mit ihr unter anderem exponierten Vertretern der nationalsozialistischen Justiz gedacht wird, wie auch Frank Engehausen in seinem jüngsten Blogbeitrag berichtet hat. Ende Mai 2017 hatte der Deutsche Anwaltsverein (DAV) in einer Pressemitteilung darauf hingewiesen, dass nach wie vor „Gedenktafeln wie eine im Gebäude des Bundesgerichtshofes [existieren], mit welchen Mitgliedern des Reichsgerichts und der Reichsanwaltschaft gedacht wird, die nach Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in sowjetischen Internierungslagern umkamen.“ Der DAV forderte, „Gedenktafeln für NS-Juristen in Justizgebäuden jetzt abzuhängen oder eine andere Form des kritischen Umgangs mit ihnen zu finden“. Zuletzt forderte auch Volkert Vorwerk – Rechtsanwalt beim Bundesgerichtshof – die Entfernung der Tafel.

Infolge dieser geschichtspolitischen Diskussion ließ der Bundesgerichtshof im März 2018 eine Erläuterung neben die Gedenktafel anbringen, die darauf aufmerksam macht, dass „[u]nter den Personen, zu deren Gedenken diese Tafel bestimmt wurde, […] sich auch solche [befanden], die in der Zeit des Nationalsozialismus unter anderem auch an Unrechtsurteilen, zum Beispiel wegen ‚Rassenschande‘, beteiligt waren.“

Auf die Nachfrage des Autors betonte die Stellvertretende Pressesprecherin des BGH Louisa Bartel, dass es dem Bundesgerichtshof bewusst sei, „dass sich unter den Personen, zu deren Gedenken die Tafel im Jahre 1957 bestimmt wurde, auch solche befinden, die in der Zeit des Nationalsozialismus an Unrechtsurteilen beteiligt waren oder in anderer Weise schwere Schuld auf sich geladen haben“. Allerdings lägen historisch gesicherte Informationen über die betroffenen Personen bislang nicht vor, anhand derer man „eine Entscheidung über den historisch angemessenen künftigen Umgang mit der Gedenktafel treffen“ könne.

Der BGH beauftragte den Zeithistoriker Michael Kißener und den Rechtshistoriker Andreas Roth, die Geschichte des Bundesgerichtshofs aufzuarbeiten. Ein zweites Forschungsvorhaben gilt besonders der Erinnerungskultur des Hauses, das den „Umgang der Nachkriegsjustiz mit dem Nationalsozialismus einschließlich der personellen Bezüge gerade auch beim Bundesgerichtshof“ untersuchen soll, so Bartel. Anhand der Forschungsergebnisse soll schließlich entschieden werden, ob die umstrittene Gedenktafel entfernt oder belassen wird. Bis dahin verweist die jüngst angebrachte Erläuterung auf den historischen Kontext und die in Auftrag gegebenen Forschungsarbeiten.

 

Umstrittene Gedenktafel im Bundesgerichtshof von 1957 (Foto: Pressestelle des BGH) | Klicken zum Vergrößern

Jüngst neben der Gedenktafel angebrachte Erläuterung mit Verweis auf historischen Kontext und ergangenen Forschungsauftrag (Foto: Pressestelle des BGH) | Klicken zum Vergrößern

„Sagt man im dritten Reich ein wahres Wort/Kommt gleich die Polizei & holt einen fort“. Ein Bammentaler Schmähdichter vor dem Sondergericht Mannheim

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Verhörprotokoll vom 25. Mai 1936 (GLA 507 Nr. 1101). Der Name des Angeklagten wurde unkenntlich gemacht | Klicken zum Vergrößern

Der Verfasser dieser Zeilen hat sich in letzter Zeit häufiger mit den im Generallandesarchiv Karlsruhe überlieferten Akten des Sondergerichts Mannheim beschäftigt. Eines der projektrelevanten Ziele, die er damit verbindet, ist zu überprüfen, inwieweit die politisch unerwünschten Meinungsäußerungen, die von den Sondergerichten kriminalisiert wurden, sich auf regionale Phänomene der nationalsozialistischen Herrschaft im Allgemeinen und die Tätigkeit der Landesministerien im Besonderen bezogen.

Die Hoffnung, auf diese Weise abseits der nationalsozialistischen Selbstdarstellungen, die das überlieferte Quellenmaterial prägen, Einblicke in andere, ungeschminkte Volksmeinungsäußerungen über die regionale NS-Prominenz zu gewinnen, hat sich dabei im großen Ganzen bisher nicht erfüllt: Hitler, Göring und Goebbels sind die Protagonisten der strafrechtlich verfolgten politischen Aussagen und der Reichstagsbrand, der „Röhm-Putsch“, die allgemeine Wirtschaftslage und die Repressionspolitik des „Dritten Reiches“ ihre Hauptthemen. Die badischen NS-Führer erscheinen in den vor das Sondergericht Mannheim gebrachten Fällen eher selten und zumeist auch nur als Beispiele für den Typus des nationalsozialistischen „Bonzen“. Auch wenn die Hauptbeute der Recherchen bisher schmal ausgefallen ist, so hat sich einiger interessanter Beifang ergeben, von dem an dieser Stelle ein Stück mitgeteilt sei, weil zum einen einzelne solcher Zeugnisse der kriminalisierten vox populi der Nachwelt zugänglich gemacht werden sollten und zum anderen der hier dokumentierte Text trotz seiner offensichtlichen Fixierung auf die Person Hitler bei genauer Betrachtung auch regionale Bezüge enthält.

Angeklagt wurde vor dem Sondergericht Mannheim im Jahr 1936 wegen der Verbreitung eines aus 22 Strophen bestehenden politischen Schmähgedichts ein damals 44-jähriger ehemaliger Gemeinderechner aus Bammental bei Heidelberg. Der beinamputierte Verdächtige hatte im Frühjahr 1936 einen Kuraufenthalt in Wildbad im Schwarzwald verbracht, und nach seiner Abreise war in einem Schrank in dem von ihm bewohnten Zimmer das inkriminierte Schmähgedicht gefunden worden. Eine Reinigungskraft hatte es dem Leiter des Sanatoriums übergeben, und dieser übermittelte es der Gestapo in Karlsruhe. Der mutmaßliche Dichter wurde von der Heidelberger Gestapo vernommen, leugnete zunächst, dass das Gedicht aus seiner Feder stamme, und präsentierte, nachdem der Vergleich mehrerer Handschriftenproben ihn eindeutig belastete, dann die Erklärung, dass er während seines Kuraufenthaltes von einem ihm unbekannten Mann genötigt worden sei, das ihm ebenfalls unbekannte Gedicht abzuschreiben. Er habe es zunächst aufgehoben, um den Mann anzuzeigen, dazu dann aber doch nicht den Mut aufgebracht, weil er meinte, selbst belastet zu werden. Das Blatt mit dem Gedicht habe er schließlich in den Papierkorb in seinem Zimmer geworfen – wie es von dort in seinen Schrank gelangen konnte, war ihm unerklärlich.

Die Heidelberger Gestapo war nicht willens, den Beschuldigten mit dieser Erklärung davonkommen zu lassen, zumal einer der ermittelnden Beamten sich daran erinnerte, schon einmal mit einem identischen Schmähgedicht befasst gewesen zu sein: Fünf Monate vor dem Vorfall in Wildbad, am 1. Januar 1936, nämlich war in Heidelberg ein von einem offenkundig fiktiven „H. Schneider“ adressierter Brief an den „Führer“ aufgegeben worden, der, wie die Beschlagnahme des Schriftstücks gezeigt hatte, eben jenes 22-strophige Schmähgedicht enthielt. Die Ermittlungen waren damals in eine Sackgasse gemündet, wurden nun aber wiederaufgenommen und führten durch einen Schriftvergleich zu einer weiteren Belastung des ehemaligen Bammentaler Gemeinderechners. Nachdem auch noch seine Ehefrau seine Handschrift auf den fraglichen Schriftstücken identifizierte und ihn der Gestapo gegenüber als notorischen Querulanten schilderte und ein Gutachten des Heidelberger Staatlichen Gesundheitsamtes ihm zwar „einen gewissen Mangel an höherem Urteilsvermögen“, „primitive Denkungsrat“ sowie „Lügenhaftigkeit“ attestierte, ihn aber für „nicht geisteskrank“ erklärte, hatte der Beschuldigte keine Chance auf einen Freispruch: Das Sondergericht Mannheim verurteilte ihn in dem üblichen Schnellverfahren im Februar 1937 zu einer Gefängnisstrafe von einem Jahr und drei Monaten wegen eines Vergehens nach §4 (Aufforderung oder Anreizung zur Zuwiderhandlung gegen Anordnungen der Reichsregierung) der sogenannten Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933.

Urteil des Sondergerichts Mannheim (GLA 507 Nr. 1101). Der Name des Angeklagten wurde unkenntlich gemacht | Klicken zum Vergrößern

Bei dem 22-strophigen Gedicht, das dem ehemaligen Bammentaler Gemeinderechner zum Verhängnis wurde, handelt es sich um eine Generalabrechnung mit dem Nationalsozialismus an der Macht, in der sich Enttäuschung über die ausgebliebene Erfüllung vor allem sozialer und wirtschaftlicher Versprechen („Die Butter ist zwar auch schon knapp/Devisen hat Deutschland auch mal gehabt/Im dritten Reich wird stets aufgebaut/Das geht ja wie Krebseslauf“) sowie Verdruss über das allgemein repressive Klima seit 1933 („Herr Hitler spricht in seinen Reden/Er hat den Deutschen die Freiheit gegeben/Die Zwangsjacke hat er uns angezogen/Und mit der Freiheit ist alles verlogen“) widerspiegeln. Die badische Herkunft des Gedichts erschließt sich ganz offensichtlich gleich in der zweiten Strophe („In Heidelberg hat sich’s bewiesen/Wo ist die Polizei geblieben/Sie bettelte von Haus zu Haus/Und morden kann man ungestört drauf“), und auch die neunzehnte („Der Adolf Hitler hat gelacht/Als er bekommen hat die Macht/Mit 1000 M. monatlich kommen wir auch nicht aus/Wir leben jetzt auch in Saus und Braus“) nimmt möglicherweise Bezug auf regionale Problemlagen: Die badischen Nationalsozialisten hatten nämlich vor der Machtübernahme besonders nachdrücklich für eine Begrenzung der Gehälter im öffentlichen Dienst auf monatlich 1.000 Reichsmark agitiert, und noch 1933 war das Thema virulent geblieben, weil der NS-Ministerpräsident Walter Köhler einige Anstrengungen unternahm, dieses Vorhaben tatsächlich durchzusetzen, womit er allerdings am Desinteresse seiner Ministerkollegen und des Reichsstatthalters Robert Wagner sowie dem Widerspruch von nationalen NS-Größen scheiterte. In den nicht allzu zahlreichen Ermittlungen wegen despektierlicher Äußerungen über Wagner und auch Köhler selbst jedenfalls tauchen Verweise auf das generell nicht eingelöste und mit Blick auf die Ministereinkünfte die Realität verhöhnende Versprechen der Gehaltsobergrenzen immer wieder auf.

Einen dritten Hinweis auf die regionale Verortung des Gedichts schließlich geben die beiden Verse, die in der elften Strophe dem Zitat aus der Überschrift dieses Blogartikels folgen: „Sag nur die Wahrheit nicht so laut/Sonst kommst Du gleich nach Kislau“. Dass sich der Name des badischen Konzentrationslagers nicht gut ins Reimschema fügt, fällt nicht ins Gewicht, da das Gedicht wohl ohnehin keine literarischen Ansprüche erfüllen wollte. Erinnerungswert mag es aus einem anderen Grund erscheinen: nämlich als zeitgenössisches Zeugnis einiger plausibler Einschätzungen des elementaren Charakters der nationalsozialistischen Herrschaft.

Quelle: GLA 507 1101

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Zeugeneinschüchterungen durch die SA und Reaktionen des badischen Justizministeriums darauf – ein Rastatter Fall vom Herbst 1934

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Schreiben Wackers vom 8. November 1934 bezüglich der Intervention eines SA-Sturmbannführers in das im Artikel geschilderte Strafverfahren (GLA 240 Zugang 1987-53 Nr. 18) | Klicken zum Vergrößern

Alle nationalsozialistischen Landesminister bemühten sich darum, den Eindruck zu erwecken, dass die Autonomie der Staatsverwaltung auch nach der Machtübernahme fortexistierte und die Ministerien nicht bloß als verlängerter Arm der NSDAP-Parteistellen agierten. Besonders schwierig war diese Aufgabe für die Landesjustizministerien. Einerseits musste man darauf Rücksicht nehmen, dass die rechtsstaatlichen Prinzipien seit Generationen fest in der Gesellschaft verankert waren und die Bürgerinnen und Bürger deshalb einzuschätzen wussten, wie die Justiz funktionieren sollte und welche Verfahren und Praktiken recht oder unrecht waren. Andererseits fühlten die neuen Protagonisten der Landesjustizverwaltungen sich selbst dem Ziel verpflichtet, die Justiz zu politischen Zwecken einzusetzen. Wie sie in diesem Spannungsfeld agierten, sei im Folgenden an einem badischen Beispiel illustriert, das sich im Herbst 1934, wenige Wochen vor der Aufhebung der Landesjustizministerien im Zuge der sogenannten „Verreichlichung“ der Justiz, ereignete.

Anlass zu einer Intervention des badischen Justizministeriums bot ein Strafverfahren gegen zwei Angehörige der SA, die sich im Oktober 1934 vor dem Amtsgericht Rastatt wegen erschwerter Körperverletzung verantworten mussten. Während der Gerichtsverhandlung wurde aktenkundig, dass sowohl das Opfer als auch die Zeugen des Vorfalls eingeschüchtert worden waren: Der Sturmbannführer der beiden angeklagten SA-Männer war von der örtlichen Polizei über die Tat informiert worden und hatte daraufhin durch den Bürgermeister das Opfer und die Zeugen aufs Rathaus bestellt, um sie dort zu „vernehmen“. Im Dabeisein der Angeklagten waren dem Opfer und den Zeugen „ihre in der Gendarmeriemeldung niedergelegten Angaben vorgehalten“ worden mit der Frage, „ob sie diese Angaben aufrecht erhalten wollten“. Über diese Vernehmung war von dem Sturmbannführer ein Protokoll angefertigt worden.

Offenkundig misslang der Einschüchterungsversuch oder glückte nicht ganz, denn die beiden angeklagten SA-Männer Josef Kassel und Wilhelm Müller aus Ottersdorf wurden vom Amtsgericht Rastatt zu Gefängnisstrafen verurteilt. Dennoch sah das Gericht ihn als so gravierend an, dass es den badischen Generalstaatsanwalt Emil Brettle informierte. Dieser suchte den persönlichen Kontakt zu Heinz Pernet, dem Führer der SA-Brigade 53 (Karlsruhe). Pernet, ein Veteran des Hitler-Putsches vom November 1923, missbilligte „das beanstandete Verhalten“ und sagte zu, „dem Sturmbannführer das Geeignete zu bemerken“.

Justizminister Otto Wacker, selbst ehemaliger SA-Mann, aber 1933 zur SS gewechselt, der zwischenzeitlich von Brettle über den Vorfall informiert worden war, betrachtete mit der Ankündigung Pernets, den Sturmbannführer bei Gelegenheit zurechtzuweisen, „die Angelegenheit für erledigt“, wie er am 8. November 1934 dem Amtsgericht Rastatt mitteilen ließ. Allerdings sah Wacker in der grundsätzlichen Frage, wer wen wie über Strafmeldungen informieren darf, Handlungsbedarf und wandte sich in dieser Angelegenheit am gleichen Tag an seinen Ministerkollegen und Parteifreund Karl Pflaumer, auch er früherer SA-Angehöriger, in dessen Innenressort die Zuständigkeit für die Polizei fiel. In seinem Schreiben rekapitulierte Wacker den Vorfall, den er für bedenklich hielt, weil eine Einschüchterung von Zeugen „die Wahrheitsermittlung im Strafprozess“ erschwere. Überdies dürfe ein solches Eingreifen durch die Staatsbehörden auch deshalb nicht gebilligt werden, weil es das Ansehen der Gendarmerie gefährde, wenn „deren Meldungen durch eine unberufene Instanz gewissermaßen nachgeprüft werden“. Zwar dürften „gelegentliche Übergriffe von SA. – oder anderen Parteistellen auch in Zukunft nicht ganz zu verhüten sein“, meinte Wacker, versprach sich aber Erleichterung, wenn in Zukunft „den SA-Dienststellen keine Doppel der Gendarmeriemeldung mehr zugehen“; solche „Eingriffe in die Rechtspflege“, wie in Rastatt geschehen, seien dann „kaum mehr zu befürchten“.

Die Angeklagten im Hitler-Ludendorff-Prozess. Links steht der im Artikel erwähnte Heinz Pernet, rechts der spätere Gauleiter und Reichstatthalter Badens Robert Wagner (Bundesarchiv, Bild 102-00344A, Fotograph: Heinrich Hoffmann) | Klicken zum Vergrößern

Innenminister Pflaumer teilte diese Einschätzung und ordnete am 5. Dezember 1934 an, in der nächsten Nummer des Gendarmerie-Verordnungsblattes auf die Unzulässigkeit der bisherigen Praxis der Weiterleitung von Strafmeldungen „gegen Angehörige der NSDAP (insbesondere der SA und der SS) an Parteidienststellen“ durch Beamte der Polizei und der Gendarmerie hinzuweisen. Die Entscheidung, „ob und inwieweit einer Parteidienststelle über den Stand oder das Ergebnis eines Strafverfahrens […] Mitteilung gemacht werden kann“, so der Innenminister, „kommt nur der zuständigen Behörde (Staatsanwaltschaft, Bezirksamt usw.) zu“. Entsprechende „Auskunftsersuchen“ seien von den Angehörigen des staatlichen Sicherheitsdienstes unbeantwortet „an die zuständige Behörde zur weiteren Entschließung zu verweisen“. Die Rücksichtnahme auf vermeintliche Belange der Parteistellen wollte Pflaumer den Gendarmen indes nicht vollständig verbieten: Sei „nach den Umständen eines Falles anzunehmen, daß der Wortlaut einer Strafmeldung für eine Parteidienststelle von Bedeutung ist, so kann eine Doppelschrift der Strafmeldung der Vorlage an die zuständige Behörde angeschlossen werden“.

Taugt der hier geschilderte Fall dazu, die nach 1945 gebetsmühlenhaft vorgetragene These zu stützen, dass die staatliche Verwaltung im Allgemeinen und die Justiz im Besonderen während des „Dritten Reiches“ normenstaatlichen Prinzipien gefolgt und daraus Dauerkonflikte mit den Parteistellen der NSDAP erwachsen seien? Der Verfasser dieser Zeilen meint: nein. Zwar nutzte Wacker auch das Argument, polizeiliches und gerichtliches Verfahren sollten der „Wahrheitsfindung“ dienen; sein Hauptmotiv dürfte jedoch gewesen sein, den ihm als Justizminister unterstellten Behörden eine gegenüber den Parteistellen möglichst große Handlungsfähigkeit zu erhalten. Auch zielten Pflaumers Anordnungen nicht darauf, eine Einflussnahme von Parteistellen auf polizeiliche und gerichtliche Verfahren konsequent zu unterbinden, sondern verlagerten die Entscheidungen über die Zulässigkeit von Einflussnahme von den lokalen Akteuren auf die übergeordneten staatlichen Instanzen; auch ihm dürfte es eher um die Autonomie der Verwaltung als um die Pflege der Normen selbst gegangen sein. Als Beispiel für die oft beschworenen Abwehrgefechte des Rechtsstaats gegen die Zumutungen der Partei kommt der Vorfall auch deshalb nicht in Betracht, weil die rechtsstaatlich gebotene Einleitung eines Ermittlungsverfahrens gegen den selbsthilfewilligen Sturmbannführer wegen Strafvereitelung unterblieb.

Quelle: GLA 240 Zugang 1987-53 18

 

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„Hornbebrillte Memmen oder Kerle, die das Leben anpacken?“ Ein Konflikt zwischen Kultusminister Otto Wacker und der badischen NS-Parteipresse über die Schulpolitik im Sommer 1934

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Badischer Kultus- und Justizminister Otto Wacker. Fotographie aus: Der Reichstag (Hrsg.): Der Großdeutsche Reichstag, Wahlperiode nach d. 30. Jan. 1933, verlängert bis zum 30.1.1947, Berlin 1938, S. 550 | Klicken zum Vergrößern

Der badische Kultusminister Otto Wacker, in dessen Ressort nach Einschätzung seines Ministerkollegen Paul Schmitthenner der „Lufthauch schneidender“ war als in den übrigen Landesministerien, trat im ersten Jahr nach seiner Amtseinsetzung in der Schulpolitik mit zahlreichen Maßnahmen hervor, die darauf zielten, das badische Schulwesen rasch nach den nationalsozialistischen Leitvorstellungen umzugestalten. Hierzu zählten neben verschiedenen Erlassen, die zum Beispiel den „Deutschen Gruß“ im Unterricht einführten, und einer weitgreifenden Volksschulreform, für die Wacker einen scharfen Konflikt mit dem Reichsinnenministerium riskierte, das den Ländern keinen Raum für eigene Schulgesetze mehr lassen wollte, vor allem massive Eingriffe in den Personalbestand der Schulen: Wacker beließ es nicht bei den politischen und rassistischen „Säuberungen“ auf der Grundlage des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, sondern vollzog durch Beförderungen, Versetzungen und Zurruhesetzungen ein umfangreiches Personalrevirement vor allem in den Schulaufsichtsbehörden und bei den Schulleiterpositionen.

So große Unruhe Wackers Personalpolitik in den Schulen auch verursachte, ging sie doch einigen seiner Parteigenossen offenkundig nicht weit genug. Dies zeigte ein im Karlsruher NS-Parteiblatt „Der Führer“ am 23. Juni 1934 in der Rubrik „Aus der Bewegung“ erschienener Artikel, der unter der Überschrift „Wir revolutionieren die Schule“ den „Schluß mit verkalktem Paukersystem“ forderte. Anlass zu dem knappen glossenartigen Text hatte dem anonymen Verfasser ein Erlass des gerade neu eingerichteten Reichserziehungsministeriums geboten, der die Präsenz der Hitler-Jugend in den Schulen regelte und die Lehrer zur Teilnahme an politisch bildenden „Gemeinschaftslagern“ verpflichtete. Der Artikel begrüßte beide Maßnahmen und wies mit Nachdruck darauf hin, dass die Anpassung der Lehrerschaft an die neuen politischen Verhältnisse noch bei weitem nicht gelungen sei. Immer noch sei an den Schulen der Typus des „Paukers“ verbreitet, an den sich der Autor aus eigener Erfahrung „mit Grauen“ erinnerte, als er durch „Büffeleien zur Interesselosigkeit förmlich“ gezwungen worden sei. Statt „Pauker“ habe der Lehrer „Führer“ zu sein; „er hat hart zu sein, wo es nottut, vor allem aber und zuerst gegen sich selbst; er hat vorzuleben“. Nur in die „Kameradschaft des Volkes hineingestellt“ könne der Lehrer im „Interesse der deutschen Revolution“ agieren. Und diese werde „ihre Aufgabe nicht mehr darin sehen, unnötigen Wissenswust in die Köpfe zu quetschen, den das Gehirn für kurze Zeit hält, um ihn nachher als Fremdkörper wieder auszuscheiden, sondern lebendig zu lehren. Ihr Prinzip wird nicht lauten: Wissen ist Macht, sondern Charakter und Haltung! Der Mensch, den die nationalsozialistische Schule heranzieht, wird keine hornbebrillte, allweise Memme sein, sondern ein Kerl, der das Leben anpackt, wie es sich ihm entgegenstellt“.

Artikel eines anonymen Autors über das „verkalkte Paukersystem“, in: „Führer“ vom 23. Juni 1934 | Klicken zum Vergrößern

Kultusminister Wacker reagierte auf den Artikel dünnhäutig und fertigte für den „Führer“, für den er selbst noch anderthalb Jahre zuvor als Hauptschriftleiter gearbeitet hatte, persönlich eine Gegendarstellung an. In ihr warf Wacker dem anonymen Verfasser des Artikels vor, den Lehrerstand „in unverantwortlicher Weise herab[zu]setzen und das so dringend benötigte Vertrauensverhältnis zwischen Schule und Elternhaus auf das schwerste“ zu erschüttern. Sicherlich solle die Schule „im Sinne nationalsozialistischer Weltauffassung revolutioniert werden, aber auf dem genialen Wege, in welchem Adolf Hitler die nationale Revolution zum Segen des deutschen Volkes bisher zielbewusst und massvoll geführt hat“. In einem Fazit der eigenen bisherigen Personalpolitik betonte Wacker, „dass ein großer Teil der Lehrer den Geist des neuen Deutschland bereits erfasst hat oder sich zum mindesten redlich bemüht, am Neuaufbau im nationalsozialistischen Geiste mitzuarbeiten“. Viele Lehrer gehörten der NSDAP bereits an, viele täten in der SA oder SS Dienst, und „fast restlos“ seien sie im „nationalsozialistischen Lehrerbund erfasst“. Klar sei aber auch, „dass die nationalsozialistische Weltauffassung in eineinhalb Jahren noch nicht eine völlige geistige Erneuerung bei allen Lehrern herbeigeführt“ habe. Auch die Polemik des Artikels gegen die in den Schulen fortdauernde Geistesbildung wies Wacker zurück: „Der Verfasser des Artikels darf versichert sein, dass in der nationalsozialistischen Schule neben der in die erste Linie gerückten nationalen, charakterlichen und körperlichen Erziehung auch die geisteswissenschaftliche ihren Platz behalten muss. Erstklassige geisteswissenschaftliche Leistungen sind für das deutsche Volk in seinem schweren Kampf um die Erhaltung von Volk und Wirtschaft von grösserer Bedeutung denn je. Die deutsche Schule der Zukunft wird eine ernste Arbeitsstätte nationalsozialistischen Aufbauwillens sein“.

Seiner Machtstellung als Minister und seiner Verdienste um den Aufbau des Parteiblattes zum Trotz kam Wackers Gegendarstellung im „Führer“ nicht zum Abdruck – möglicherweise infolge eines persönlichen Zerwürfnisses mit seinem Nachfolger als Hauptschriftleiter Karl Neuscheler, für das sich indes in den Quellen sonst keine Belege finden lassen. Jedenfalls war der Ministerialdirektor des Kultusministeriums, Paul Frank, von dessen Büro es ein Fußweg von nur fünf Minuten zur Redaktion des „Führers“ in der Karlsruher Kaiserstraße war, mehrmals bei Neuscheler vorstellig gewesen, konnte von ihm aber nicht mehr erlangen als die dürre schriftliche Stellungnahme, dass es der Redaktion nicht möglich sei, das „Schriftstück, das eine Art Erwiderung auf einen im ‚Führer‘ erschienenen Artikel ‚Wir revolutionieren die Schule‘ darstellt“, „auch nur teilweise“ zu veröffentlichen.

Entgegnung Wackers auf den im Führer erschienenen Artikel (GLA 233 Nr. 27969) | Klicken zum Vergrößern

Auf eine persönliche Aussprache, die ihm Neuscheler angeboten hatte, ging Wacker nicht ein, sondern trug den Vorfall stattdessen vor das Staatsministerium. Er beantragte zum einen, „auf den ‚Führer‘ in der dort geeignet erscheinenden Weise einzuwirken, dass er in Zukunft Artikel der von mir beanstandeten Art über die Lehrerschaft nicht mehr bringt, weil das Ansehen der Lehrer bei den Schülern hierdurch aufs schwerste erschüttert wird“, und zum anderen, „durch die Pressestelle der Staatsregierung anliegende kurze, allgemein gehaltene Notiz im Staatsanzeiger bekannt zu geben“ – Wacker kritisierte dort nicht den „Führer“ direkt, sondern eine ungewisse „Reihe von Veröffentlichungen“, in denen der „gesamte Lehrerstand, insbesondere aber die Lehrer an Höheren Lehranstalten, im Ansehen der Öffentlichkeit herabgesetzt“ worden seien. Mit beiden Anträgen blieb ihm nur ein Teilerfolg beschieden: Der „Pforzheimer Anzeiger“ übte offenkundig Solidarität mit dem „Führer“ und musste ein zweites Mal aufgefordert werden, Wackers Notiz in seinem amtlichen Teil zu veröffentlichen, und eine direkte Einflussnahme des Staatsministeriums auf die Redaktion des „Führers“ unterblieb, nachdem eine kurze Rücksprache mit Neuscheler und Verlagsleiter Emil Munz ergeben hatte, dass beide bereits von Reichsstatthalter und Gauleiter Robert Wagner zu einer schriftlichen Stellungnahme in dieser Sache aufgefordert worden waren. Damit wurden die Weichen gestellt für eine parteiinterne Klärung, über die – wegen fehlender Quellen – hier nichts mitgeteilt werden kann.

Quelle: GLA 233 Nr. 27969

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Ein ungeschriebener Persilschein: Warum der demokratische Politiker und Psychologieprofessor Willy Hellpach dem badischen NS-Kultusminister Paul Schmitthenner eine Absage erteilte

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Willy Hellpach (GLA 231 Nr. 2937 (12)) | Klicken zum Vergrößern

Wie anderen Projektmitarbeiterinnen und Projektmitarbeitern verursacht auch dem Verfasser dieser Zeilen die regelmäßige Lektüre von Spruchkammerakten inzwischen mitunter Verdruss. Einerseits sind sie unverzichtbare Quellen, um Daten und andere Informationen zu politischen Biographien zu erschließen; andererseits erweisen sich die vom Volksmund rasch zu „Persilscheinen“ deklarierten Leumundszeugnisse zugunsten Betroffener, die erhebliche Teile der Spruchkammerakten ausmachen, als nicht selten ganz unbrauchbare, in jedem Fall aber höchst problematische Dokumente, aus denen sich nur mit Mühen unter den vielfach floskelhaft apologetischen Aussagen einzelne verifizierbare Sachverhalte herausarbeiten lassen. Mehr als über die Zeit des „Dritten Reiches“, möchte man fast sagen, verraten die Spruchkammerakten über die Nachkriegsgesellschaft – im Allgemeinen über die Schlussstrichmentalität, die sich rasch ausbildete, und im Besonderen über die Netzwerke, die die einzelnen Betroffenen aufbauten, um ihrer politischen Rehabilitierung und damit verbunden auch ihrer materiellen Reintegration den Weg zu bereiten.

Unter diesen Prämissen lässt sich auch die Spruchkammerakte des Historikers Paul Schmitthenner lesen, der seit 1933 der badischen Regierung als rechtskonservativer Alibikandidat in der Funktion eines ressortlosen Staatsministers angehört und 1940, längst zum Nationalsozialisten gewandelt, die kommissarische Leitung des Kultusministeriums übernommen hatte. Ein besonderes Kennzeichen von Schmitthenners Spruchkammerverfahren war sein schleppender Gang: Nach zweijähriger Internierungshaft und anschließender Erkrankung Schmitthenners wurde das Verfahren vor der Zentralspruchkammer Karlsruhe erst am Jahresende 1949 eröffnet. Anderthalb Jahre später erfolgte die Einstellung; Schmitthenner konnte sich unter Verweis auf seine Krankheit so lange einer mündlichen Verhandlung entziehen, bis er von den Gesetzesänderungen zur Abwickelung der Entnazifizierung profitierte, die zuletzt nur noch die Durchführung von Spruchkammerverfahren gegen mutmaßliche Hauptschuldige und Belastete vorsah, zu denen die Karlsruher Kammer ihn nicht zählen wollte.

Mit Persilscheinen hatte sich Schmitthenner bereits aus seiner Internierungshaft heraus zu versorgen begonnen, und er konnte zum Schluss eine Gruppe durchaus prominenter Entlastungszeugen zusammenstellen. Für seine Karlsruher Ministertätigkeit waren dies nach dem Krähe-Augen-Prinzip unter anderem der ehemalige nationalsozialistische Ministerpräsident Walter Köhler, der frühere Ministerialdirektor im badischen Innenministerium Friedrich Karl Müller-Trefzer sowie Michel Fuhs, der unter Schmitthenner die Hochschulabteilung im Kultusministerium geleitet hatte. Als Zeugen für seine Amtsführung als Rektor der Universität Heidelberg (1938-1945) konnte Schmitthenner Eugen Fehrle – einen problematischen Kandidaten, da dieser wie er selbst zu den nach 1933 politisch avancierten Professoren gehörte – mobilisieren, aber auch den Philosophen Karl Jaspers, der Schmitthenners Interventionen zugunsten seiner als „nicht arisch“ abgestempelten Ehefrau honorierte. Prominenten Beistand erhielt Schmitthenner auch durch den (süd)badischen Staatspräsidenten Leo Wohleb, der ihn zum Gegner des Reichsstatthalters und Gauleiters Robert Wagner erklärte, obwohl er ihn persönlich erst am Jahresende 1944 kennengelernt hatte.

Welche Mühen es Schmitthenner gekostet hat, dieses Konvolut von Persilscheinen zusammenzustellen, und wie viele Absagen er bei seinem mutmaßlichen Bemühen um dessen Vergrößerung erhalten hat, ist nicht bekannt. Dass es zumindest in einem Fall eine solche Absage gegeben hat, belegt ein Zufallsfund bei der Durchsicht des Nachlasses Willy Hellpachs, eines demokratischen Politikers, der von 1921 bis 1925 als Amtsvorgänger Schmitthenners das badische Kultusministerium geleitet hatte, 1925 als Kandidat bei der Reichspräsidentenwahl gegen Paul von Hindenburg angetreten war und Schmitthenner während seiner Tätigkeit als Psychologieprofessor an der Universität Heidelberg kennengelernt hatte. Hellpach erreichte die Bitte Schmitthenners um Erstellung eines Leumundszeugnisses für sein Spruchkammerverfahren offenkundig im Frühjahr 1948. Nach einigem Zögern, das Hellpach mit einer ernsten Erkrankung seiner Frau begründete, antwortete er ihm mit einem Brief vom 5. Juni, in dem er das Ansinnen zurückwies: Was er „zu schreiben vermöchte, würde Ihnen nichts nützen, sondern eher bei den urteilenden Instanzen den Eindruck einer Gefälligkeitsbekundung machen; und reichliche Erfahrung zeigt mir, daß dies schädlicher ist, als gar nichts“.

Paul Schmitthenner (UAHD BA Pos I 01267) | Klicken zum Vergrößern

Um zu begründen, warum er zu mehr als einer phrasenhaften Gefälligkeitserklärung nicht in der Lage wäre, holte Hellpach in dem Brief etwas weiter aus und würdigte zunächst Schmitthenners politische Karriere vor 1933 als Landtagsabgeordneter der Deutschnationalen Volkspartei. Er habe ihn damals zu den „stärksten politischen Hoffnungen gezählt“ und sich von ihm maßgebliche Beiträge zu einer Umwandlung der deutschnationalen Bewegung zu einer „wahrhaft und im modernen Stile konservativen Partei“, die „unserer jungen Republik bitter Not tat“, versprochen. Auch seinen Eintritt in die badische Regierung im Jahr 1933 habe er Schmitthenner noch nachsehen können: „Sogar daß sie schließlich der Partei [der NSDAP] beitraten, machte mich darin anfangs nicht irre, da ich es als eine widerwillige, wenn auch bedauerliche Konzession taktischer Art auslegte. Später aber, gerade als sie das Rektorat antraten und Unterrichtsminister wurden, ist mir ihre betont propagandistische rednerische Haltung zur ‚Bewegung‘ immer unbegreiflicher geworden“. Hellpach konzedierte, dass Schmitthenner gute Absichten gehabt und „hinter den Kulissen mancherlei gewirkt“ haben möge, „was wir nicht wußten und was wir ihnen darum auch nicht bezeugen können; aber alles das haben Sie doch immer wieder überschattet mit Ihren rednerischen Kundgebungen, welche immer einseitiger die Überhitztheit des Konvertitentums atmeten und darum auf uns vielfach so fatal wirkten“. Als sei dies noch nicht deutlich genug, legte Hellpach nach: „Auch Ihr Uniformtausch, ihr Aufstieg in der neuen Truppengattung [der SS], Ihr offensichtliches Streben nach immer höheren Machtpositionen wirkte in der gleichen beklagenswerten Richtung. Sie ließen schließlich sogar […] die gesellschaftlichen Beziehungen zu uns der Partei nicht Genehmen fallen, was ich Ihnen nicht etwa aus gesellschaftlichem Ehrgeiz, aber aus sachlichen Gesichtspunkten heraus, sehr verübelt habe, denn stets hatte ich als einen Bestandteil aller politischen Gesittung vertreten, daß politische Gegnerschaft mit privaten Beziehungen nicht verquickt werden dürfe“.

Hellpach wiederholte den Vorwurf des NS-Konvertitentums mit dem persönlichen Hinweis, dass er es 1943 nicht gewagt haben würde, „nochmals in irgendeiner Frage Ihre Beratung zu erbitten, so radikal empfand ich Ihre Haltung in entscheidenden Ansichten gegen damals gewandelt“, bevor er am Schluss des Briefes einen versöhnlichen Ton anschlug und sein Bedauern über Schmitthenners aktuelle Situation aussprach: „Sie haben seither Schweres erduldet und nach allem menschlichen Ermessen für das, was man Ihnen zur Last legen könnte, überreichlich gebüßt. Ihnen mehr zu ersparen, würde mir (wie in zahlreichen Fällen) ein aufrichtiges Anliegen sein, aber mir fehlt die Handhabe dazu“. Auch werde er die „sehr freundlichen Erinnerungen“, die er an ihn „vor 1933“ habe, „durch alles, was dann dazwischentrat, niemals trüben lassen“. Hellpachs mit freundlichen Worten schließende, aber sachlich in schonungsloser Weise begründete Weigerung, Schmitthenner mit einem Persilschein zu versorgen, dürfte für den Verlauf seines Spruchkammerverfahrens unerheblich gewesen sein. Dass sie sich in Hellpachs Nachlass erhalten hat, ist aber ein glücklicher Umstand, da sie das Bild vom politischen Wirken Schmitthenners um einige Nuancen erhellt, die in seiner Spruchkammerakte nicht zu erkennen sind.

Quelle: GLA N Hellpach 445


Opfer des „unmenschlichen Massenverbrechens“ der Internierungshaft und „Schlachttier auf dem Altar der Spruchkammer“ – Paul Schmitthenners Wahrnehmung der Entnazifizierung

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Paul Schmitthenner (Universitätsarchiv Heidelberg BA POS I 02768)

Die Bilanzen, die die historische Forschung über die Entnazifizierung gezogen hat, sind ganz überwiegend negativ. Dies gilt zum einen für ihre Gesamtwirkung, da sie statt der beabsichtigten dauerhaften Ausschaltung ehemaliger Nationalsozialisten aus dem öffentlichen Leben durch die Entwicklung der Spruchkammern zu „Mitläuferfabriken“ einer weitreichenden mittelfristigen Re-Nazifizierung, zum Beispiel der Beamtenschaft, Vorschub geleistet habe. Zum anderen sei auch in der Individualwirkung statt der erhofften politischen Läuterung vielfach ein gegenteiliger Effekt eingetreten: Der Rechtfertigungsdruck, der sich durch die besondere Form der Spruchkammerverfahren ergab, habe die Betroffenen dazu verleitet, sich einer kritischen Auseinandersetzung mit der eigenen politischen Biographie zu entziehen, eine Opferrolle einzunehmen und Schuld abzuwälzen wahlweise auf Hitler, die engeren Führungszirkel der Partei und der SS oder auf einen auf allen Ebenen der Partei präsenten und dominanten Typus des fanatisierten Nationalsozialisten. Im Ergebnis habe diese erzwungene Neuerfindung der politischen Biographien bestenfalls zu einer bloß formalen, aber dennoch wirksamen Distanzierung vom Nationalsozialismus geführt und schlimmstenfalls hinter Heuchelei zu einer Vertiefung nationalsozialistischer Prägungen.

Wie die intendierte individuelle De-Nazifizierung fehlgehen und bei einem Betroffenen zu politischer Selbsteinkapselung mit eklatantem Realitätsverlust führen konnte, sei im Folgenden am Beispiel des badischen NS-Landesministers Paul Schmitthenner illustriert, dessen Wahrnehmung der Entnazifizierung sich recht genau anhand seiner um 1960 niedergeschriebenen und im Landeskirchlichen Archiv in Karlsruhe – leider nur als Fragment – überlieferten Lebenserinnerungen nachvollziehen lässt. Das Augenmerk soll dabei zwei Briefen gelten, die Schmitthenner an die allerhöchsten vermeintlich zuständigen Instanzen richtete, die ihn von seinem Schicksal, das er für ganz und gar unverdient hielt, erlösen sollten: einem Brief an den US-amerikanischen Präsidenten Harry S. Truman vom Jahresende 1945, der die eigene Entlassung aus amerikanischer Internierungshaft zum Ziel hatte, und einem Brief an den deutschen Bundespräsidenten Theodor Heuss vom Jahresanfang 1951, von dem sich Schmitthenner den Abbruch seines immer noch schwebenden Spruchkammerverfahrens versprach.

Schmitthenner, der seit 1933 der badischen Landesregierung als ressortloser Staatsminister angehört und 1940 die Leitung des Kultusministeriums übernommen hatte, verbrachte die letzten Kriegsmonate nach der improvisierten Rückverlagerung seines Ministeriums aus Straßburg ins Badische in Heidelberg, von wo aus er die Lehrerschaft des Landes mit Durchhalteparolen traktierte. Mitte April 1945 zog er sich nach Meersburg, dem südlichsten Außenposten des Kultusministeriums, zurück, und von dort aus setzte er sich nach Tirol ab ins Schloss Wiesberg, das der Familie seiner Frau gehörte. Dort blieb Schmitthenner einige Wochen unbehelligt, bis er am 19. Juni von amerikanischen Militärs in Gewahrsam genommen wurde. Nach einigen Tagen Haft im Gefängnis von Landeck begann für Schmitthenner eine Odyssee durch mehrere Internierungslager: ein Freilager in Neu-Ulm, das Lager Kornwestheim – in Schmitthenners Lebenserinnerungen als „K.Z. Nr. 73“ firmierend, die Wehrmachtskaserne Seckenheim, das Lager Kornwestheim Nr. 75 und im Dezember 1945 das Lager Zuffenhausen.

Ausschnitt aus einem Schreiben Schmitthenners vom 30. Mai 1951 an seinen ehemaligen Universitätskollegen Willy Andreas, worin er seine Internierungshaft beschreibt (GLA N Andreas Nr. 764) | Klicken für Seitenansicht

Dort verfasste Schmitthenner, der in den Vormonaten mehrfach verhört, aber nicht formal angeklagt worden war und keine Auskünfte über die mutmaßliche Dauer seiner Haft hatte erlangen können, an den Weihnachtstagen seinen Brief an Truman, dem er sich nicht als früheres Mitglied der badischen NS-Regierung vorstellte, sondern als ehemaliger Rektor der Universität Heidelberg, die er nach eigener Einschätzung von 1938 bis 1945 „gerecht, ausgleichend und versöhnend“ geführt habe. Aus seiner NSDAP-Mitgliedschaft machte er ebenso wenig ein Hehl wie aus seiner Zugehörigkeit zur SS, die jedoch nur „ehrenhalber und nominal“ bestanden habe mit Rücksicht auf seine „öffentliche Dienststellung“. Seine politische Selbstrechtfertigung war überaus schlicht: Er habe der „nationalsozialistischen Bewegung“ gedient, die ihm als „von Gott gesendet und gewollt“ erschienen sei, weil sie in den Vorkriegsjahren „offenkundige und geradezu erlösende innenpolitische Erfolge aufzuweisen hatte“. Im Kriege habe er sie, „zudem ohne Kenntnis von im Kriegsverlauf vorgefallenen Verbrechen“, nicht verlassen „aus Treue zu unserem Land und der im Ersten Weltkrieg so bitter gewonnenen Überzeugung, dass eine innere Revolution in einem Kampf auf Leben und Tod mit Vernichtung gleichbedeutend sein müsse und dass deshalb die nötige Reform auf die Nachkriegszeit zu verschieben sei“.

Er selbst und mit ihm die übergroße Mehrheit der nun Internierten habe „somit nichts anderes getan als jeder brave amerikanische, britische, französische und russische Bürger auch. Wir haben in der Not unserem Land die Treue gehalten und unsere Kraft zur Verfügung gestellt. Dies kann vor Gott und den Menschen kein Verbrechen sein“. Wiederum für das Kollektiv der Internierten sprechend, rückte Schmitthenner mit aller Entschiedenheit ab von denen, „die kriminelle Handlungen tatsächlich begangen haben und daher als Kriegsverbrecher streng und gerecht zu bestrafen sind“. Für die große Mehrheit der anderen aber würde die Fortsetzung der Internierung „mit ihren leiblichen und seelischen Schädigungen“ eine „Verletzung unseres Lebensrechtes, unserer Ehre und unserer Menschenrechte bedeuten“. Auch sei die Haftentlassung für den Wiederaufbau Deutschlands unentbehrlich, „zumal sich unter uns die Masse der Idealisten befindet, die ohne persönlichen Vorteil nur ihrem Nächsten, ihrem Land und der Menschheit zu dienen gewillt ist“.

Welche Erwartungen Schmitthenner an sein Schreiben an den US-amerikanischen Präsidenten knüpfte, ist unklar. Auch wenn eine Antwort aus Washington ausblieb, zeigte er sich rückblickend zufrieden, dass der Brief von der Zuffenhausener Lagerleitung überhaupt weitergeleitet wurde. Wichtiger als konkrete Wirkungen scheint Schmitthenner aber die Selbstbestätigung gewesen zu sein. Für ihn war es Genugtuung, „dem maasslosen Unrecht gegenüber, das allen Unschuldigen angetan wurde, nicht geschwiegen zu haben. Insofern darf dieser Brief als Widerstand gegen das unmenschliche Massenverbrechen gewertet werden, dem wir Verhafteten unterworfen waren“.

Die Internierungshaft in Zuffenhausen blieb für Schmitthenner eine weitere Episode, denn im März 1946 wurde er in die französische Besatzungszone verlegt, wo er die nächsten anderthalb Jahre in Baden-Baden zunächst im Gefängnis und nach Verschlimmerung einer Herzerkrankung im Städtischen Krankenhaus verbrachte. Ende September 1947 wurde Schmitthenner aus der Internierungshaft entlassen unter der Auflage, die französische Besatzungszone nicht zu verlassen und sich einmal monatlich bei den Militärbehörden zu melden. Für ein weiteres Jahr ließ er sich in wechselnden Krankenhäusern behandeln, und im Dezember 1948 bezog er Quartier bei seinem Bruder, der als Pfarrer in Emmendingen amtierte. Zu diesem Zeitpunkt war das Spruchkammerverfahren gegen Schmitthenner, der mit dem Ende der Internierungshaft somit noch keinen Schlussstrich unter seine politische Vergangenheit ziehen konnte, bereits angelaufen. Wegen Zuständigkeitsfragen – unklar war, ob das Verfahren in der französischen Besatzungszone (Freiburg) oder in der amerikanischen (Karlsruhe) stattfinden sollte – verzögerte es sich allerdings beträchtlich und auch wegen vermeintlicher Verhandlungsunfähigkeit Schmitthenners – sein behandelnder Arzt bestätigte ihm diese wegen einer Herzerkrankung, deutete aber zugleich eine psychosomatische Störung an mit dem Verweis, dass sich die Erkrankung möglicherweise bessern werde, wenn er den Mut fände, sich dem Spruchkammerverfahren zu stellen.

Ausschnitt aus einem Schreiben des Staatlichen Gesundheitsamtes Konstanz am Bodensee vom 8. Februar 1951 über Schmitthenners Gesundheitszustand (GLA 465f Nr. 1522) | Klicken zum Vergrößern

Hierzu war Schmitthenner indes nicht bereit und wandte sich, als der Termin der mündlichen Verhandlung näher rückte, erneut an eine höchste Instanz und schrieb am 1. Februar 1951 einen längeren Brief an Theodor Heuss, in dem er den Bundespräsidenten auf sein persönliches Schicksal aufmerksam machte als ein „Staatshelot, vertrieben, entrechtet, entehrt und nur noch mit dem Recht begabt, nach mehr als 40jährigem öffentlichen Dienst für Reich, Volk und Land, zu verhungern, wenn nicht die Hilfe der Nächsten, der Freunde und der Auslandsdeutschen dem gewehrt hätte“. Nach überstandener Leidenszeit der Internierung solle er nun „als Schlachttier auf dem Altar der Spruchkammer geopfert und endgültig zu dem langsam verendenden Menschenhaufen deutscher Patrioten geworfen werden, der, ein Inferno unter dem Boden unseres westdeutschen Bundes, wie ein lebendig Begrabener unter der Schwelle des Hauses düstert und verwest“.

Wie in dem Brief an Truman bagatellisierte Schmitthenner auch Heuss gegenüber seine Stellung in NSDAP, SS und öffentlichen Ämtern des „Dritten Reiches“. Die Leitung des badischen Kultusministeriums hob er hervor als einen „Kampf gegen den nazistischen Radikalismus“, den er „mühsam gewonnen“ habe. Seine anfänglichen Sympathien für den Nationalsozialismus hielt Schmitthenner für entschuldbar, da er diesen Irrtum mit „98 % unseres Volkes, den Kirchen und weiten Teilen des Auslandes in den Anfangs- und Aufstiegsjahren des Dritten Reiches“ geteilt habe. Eine Abkehr sei ihm während des Krieges nicht möglich gewesen, da er „ein heisses deutsches Herz besitze“ und auch klar erkannt habe, dass es „einer drohenden asiatischen Erdrosselung“ entgegenzuarbeiten gelte. Die Fortdauer der Loyalität zum nationalsozialistischen Regime habe zu den „schicksalhaften Zeit- und Wesensnotwendigkeiten“ gezählt, „die mit persönlicher Schuld und Unterstützung der nazistischen Gewaltherrschaft überhaupt nichts zu tun haben“.

Dieser Schuldverleugnung ließ Schmitthenner vehemente Angriffe auf die Spruchkammern folgen, die er mit der rhetorischen Frage einleitete: „Haben solche Spruchkammerverfahren, wie eines jetzt bei mir zwecks völliger menschlicher Vernichtung trotz schon 6 Jahre lang erlittener Verelendung beendet werden soll, noch etwas mit Recht, Sittlichkeit, Vernunft, Menschlichkeit und abendländischer Gesinnung zu tun?“ Den Kulminationspunkt seiner Ausführungen bildete die Gleichsetzung der Spruchkammerpraxis mit den Verbrechen der Nationalsozialisten: „Sieht man denn nicht, dass die Sünde des vergangenen Systems gegen Juden und anders denkende Idealisten heute gegen saubere Patrioten einfach ihre Fortsetzung findet? Sieht man nicht, dass die Untaten dieses Verfahrens mit denen der vergangenen längst zusammengewachsen sind zu einem Fleck der Schande, im Sinne von Recht und Sittlichkeit ebenso verwerflich wie jene, im Sinne von Verantwortung noch viel verwerflicher, da sie im Gegensatz zu jenen, die schlau getarnt der Kenntnis der Öffentlichkeit und ihrer Vertreter entzogen blieben, heute umgekehrt sich unter den sehenden Augen der Öffentlichkeit vollziehen und den Schutz der öffentlichen Vertretung geniessen?“ Dies alles war Schmitthenner umso unverständlicher, als der „ehemalige Reichsfeind“, der in „der ersten Psychose seines Sieges“ dieses Verfahren „erzwungen habe“, sich schon längst zurückgezogen habe und es in der Macht des Bundestages stünde, einen Schlussstrich unter die Entnazifizierung zu ziehen. Dies leitete den Schlussappell an den Bundespräsidenten ein, nun endlich einen „scharfen Strich zwischen Anständigen und Kriminellen“ zu ziehen und die Spruchkammerverfahren zu beenden – eine Bitte, die Schmitthenner aus einem „fast märtyrerhaft gewordenen Leben heraus“ vorbrachte.

Antwort aus dem Bundespräsidialamt vom 20. Februar 1951 auf Schmitthenners Schreiben an den Bundespräsidenten (GLA 465f Nr. 1522) | Klicken zum Vergrößern

Eine Antwort des Bundespräsidenten auf seinen Brief erhielt Schmitthenner nicht, aber immerhin eine Mitteilung „von einem der Räte des Bundespräsidialamtes. Dieser teilte mir im Auftrag des Herrn Bundespräsidenten Heuss mit, dass dieser meinen Brief empfangen und trotz seiner Länge gelesen habe. Mit der Entnazifizierung habe er nichts zu tun; diese sei Sache der Länder“. Schmitthenner empfand dieses „unerwartete Schreiben“, warum auch immer, „als einen kleinen Sieg“, und konnte im März 1951 einen weiteren verbuchen. Zwar blieb die von ihm so nachdrücklich geforderte Totalbeseitigung der Spruchkammerverfahren aus; diese waren aber durch die Gesetzgebung der Länder inzwischen soweit eingeschränkt worden, dass Schmitthenner davon profitierte: Da die Zentralspruchkammer Nordbaden in Karlsruhe, in deren Zuständigkeit sein Verfahren schließlich fiel, aufgrund Schmitthenners Einlassungen und zahlreicher „Persilscheine“ zu der Einschätzung gelangte, dass er weder ein „Hauptschuldiger“ noch ein „Belasteter“ – allein in diesen Kategorien sollten die Verfahren noch zum Abschluss gebracht werden – war, endete sein „Martyrium“ ohne einen formellen Schuldspruch.

Quelle: Landeskirchliches Archiv Karlsruhe (LKA) 150.028.507: Lebenserinnerungen von Paul Schmitthenner (1945–1953)

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„Im Zusammenhang mit den Abwehrmaßnahmen gegen die Greuel-Propaganda sind unbedingt auch dauernde Massregeln erforderlich“: Die Forderung Alfred Hanemanns nach Entlassung jüdischer Beamter in Baden

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Alfred Hanemann (GLA 231 Nr. 2937 (909)) | Klicken zum Vergrößern

In seinem Beitrag zur badischen Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) konnte der Autor skizzenhaft aufzeigen, dass die badischen Deutschnationalen im Gegensatz zu den Parteikollegen auf Reichsebene aufgrund ihrer Schwäche und der daraus resultierenden oppositionellen Stellung im Land nicht zu einer regierungsfähigen Partei avancieren konnten, sondern sich vor allem ab 1929 ins Schlepptau der Nationalsozialisten nehmen ließen und auf der Oppositionsbank politische Brunnenvergiftung betrieben. Damit machten sie sich mitverantwortlich für die Auflösung der ersten deutschen Demokratie. Am Beispiel des deutschnationalen Reichstagsabgeordneten Alfred Hanemann und seiner Ende März 1933 erfolgten Forderung nach Entlassung jüdischer Beamter in Baden lässt sich neben der radikalen Oppositionshaltung gegenüber dem „Weimarer System“ auch seine ideologische Verzahnung mit den Nationalsozialisten illustrieren.

Der am 6. August 1872 in Rastatt geborene Hanemann war ab 1921 Direktor des Landgerichts Mannheim. Von 1921 bis 1924 war er Abgeordneter für die DNVP im badischen Landtag, von 1924 bis 1933 vertrat er sie im Reichstag. 1924 forderte er im Landtag gemeinsam mit seinen Fraktionskollegen die Aufhebung des NSDAP-Parteiverbots, das im Zuge des Hitler-Ludendorff-Putsches reichsweit ausgesprochen worden war, was bereits auf die radikale Oppositionshaltung der badischen Deutschnationalen hindeutet. Hanemann führte in seiner Begründung aus, „daß im Interesse der allgemeinen ausgleichenden Gerechtigkeit noch vor den Wahlen auch derjenigen Partei, die durch das Verbot betroffen worden ist, die gleiche Freiheit gegönnt werden muß, wie sie alle anderen politischen Parteien […] haben! […] [D]as Gebot der Freiheit verlangt nun einmal, daß man jetzt aufhört, mit diesen einseitigen Verboten von Parteien, die der momentanen noch regierenden Partei […] zuwider sind.“ Die badischen Deutschnationalen verteidigten den gescheiterten Hitler-Ludendorff-Putsch, weil „[d]ie Verfassungen […] nicht dazu da [sind], daß sie in Ewigkeit mumifiziert werden […], sondern sie werden bekämpft mit den Mitteln, zu denen sie herausfordern.“ Für die Deutschnationalen wie Hanemann war die Novemberrevolution 1918/19 eine „große Verbrecherin, die Sittlichkeit, Staatsordnung und Wirtschaft zertrümmerte“ (zit. nach: Kißener 1997, Richter der »alten Schule«, S. 208), und jedwede Sympathie mit der Republik ging ihnen ebenso ab. In der Strafrechtspolitik vertrat Hanemann eine dezidiert antiliberale Position, was sich insbesondere in seinen Forderungen nach schärferen Strafmaßnahmen bei „gemeinschaftsschädigenden“ Vergehen äußerte. Kißener resümiert, dass sein „autoritär-nationalistisches Denken […] bisweilen in direkter geistiger Verwandtschaft mit dem Nationalsozialismus [stand]“ (Kißener 1997, Richter der »alten Schule«, S. 210).

Schreiben Hanemanns an Johannes Rupp vom 31. März 1933 (GLA 234 Nr. 4052) | Klicken zum Vergrößern

Ende März 1933 wurde Hanemann nach Entlassung des amtierenden jüdischen Landgerichtspräsidenten Heinrich Wetzlar, der nicht auf der Grundlage des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, sondern auf Druck der Nationalsozialisten hin von seinem Posten verdrängt worden war, von der kommissarischen NS-Regierung als politisch geeignetster Kandidat zu dessen Nachfolger ernannt. Unmittelbar nach seiner Ernennung forderte er am 31. März 1933 in einem Brief an seinen ehemaligen deutschnationalen Parteikollegen und amtierenden Kommissar für Justiz Johannes Rupp eine Reihe von „Abwehrmaßnahmen“ und „dauernde Massregeln […] gegen die Greuel-Propaganda […], die einer alten nationalen Forderung entsprechen und jetzt stürmisch verlangt werden. […] Aufgrund des Ermächtigungsgesetzes erscheinen gesetzliche Bestimmungen unerlässlich über a) Die Beschäftigung von Juden als Beamte und Richter im Unterricht – und Lehrfach“. Weiterhin forderte er unter Berücksichtigung von Härtefällen eine gesetzliche Regelung zur „Tätigkeit von Juden in allen sogenannten freien öffentlichen Stellungen, Anwälte, Ärzte, Theater, Handelskammer, Verbände und dergleichen.“ Hanemann zufolge sollten Juden lediglich entsprechend ihrer Bevölkerungsquote beschäftigt werden, wobei „im Falle des Nachweises erheblicher Verdienste um die deutsche Heeresmacht im Feindesland in den Jahren 1914–1918“ entsprechende Ausnahmen vorzunehmen wären. Das sogenannte Frontkämpferprivileg wurde auf Forderung Hindenburgs auch in das am 7. April verabschiedete „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ aufgenommen. Hanemann verlangte über die bereits getroffenen punktuellen Regelungen, wie beispielsweise die Entlassung jüdischer Rechtsanwälte, eine gesetzliche Grundlage, anhand der man „zur Vermeidung von Unruhen“ die jüdischen Beamten endgültig aus maßgeblichen Posten verdrängen konnte. Damit bezog er sich auf die punktuell inszenierten Protestaktionen gegen die „jüdisch“ durchsetzte Justiz. Am 28. März beispielsweise – drei Tage vor Hanemanns Schreiben an Johannes Rupp – forderte die Mannheimer SA bei einem Aufmarsch vor dem Schloss die Amtsenthebung des jüdischen Amtsgerichtsrats und Sozialdemokraten Hugo Marx.

Die Forderung nach Entlassung jüdischer Beamter überrascht insofern, als sie von einem Deutschnationalen kam, der sich angesichts des radikalen politischen Umbruchs exponieren wollte. Bereits im Vorfeld der Verabschiedung des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ und des Schreibens Hanemanns an Rupp wurden Forderungen nach „Ausschaltung der Juden aus der badischen Strafrechtspflege“ (Der Führer vom 30. März 1933, S. 1) gestellt und seitens der NSDAP mit öffentlichen Protestaktionen gegen die „verjudete Rechtspflege“ (Der Führer vom 30. März 1933, S. 7) inszeniert, wenngleich in bescheidenerem Rahmen als andernorts. Nachdem in Baden zuvor schon „die Entfernung der jüdischen Staatsanwälte“ verfügt worden war, ordnete Rupp am 29. März an, „daß kein Jude mehr in Baden als Strafrichter amtieren darf“, wie der „Führer“ am 30. März berichtete. Weil entsprechende gesetzliche Instrumentarien für die Durchsetzung dieser Forderungen fehlten, musste Druck auf die Betroffenen ausgeübt werden. Sowohl der bereits erwähnte Mannheimer Amtsgerichtsrats Hugo Marx als auch Hanemanns Vorgänger Heinrich Wetzlar wurden auf diese Weise in die „Beurlaubung“ gedrängt.

Johannes Rupp (stehend zweiter von rechts) inmitten der kommissarischen Regierung Badens (Bild aus: Ebbecke, Otto: Die Deutsche Erhebung in Baden, Karlsruhe 1933, S. 11) | Klicken für Gesamtansicht mit Bildunterschrift

Offenkundig hatte Rupp kein eigenes Konzept für die rassistischen Säuberungen in der Justiz, sondern reagierte stattdessen auf Vorschläge, die an ihn herangetragen wurden. Die von Hanemann im oben erwähnten Schreiben vorgeschlagenen Leitlinien hielt Rupp offensichtlich für plausibel, weshalb er sie am 5. April an den Reichsjustizminister und den Reichsinnenminister weiterleitete. Ferner wurde im badischen Ministerium ein von Rupp modifizierter Entwurf behandelt, ehe Robert Wagner am 5. April vorpreschte und mit einem Erlass die Beurlaubung sämtlicher „jüdischer“ Beamter in Baden anordnete.

Am 7. April konnte der „Führer“ deshalb verkünden, dass die „Umbildung der Rechtspflege […] auch in Baden ihren vorläufigen Abschluß gefunden“ habe. Am selben Tag wurde allerdings in Berlin das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ verkündet, welches die rigide badische Säuberungspolitik aufweichte und aufgrund der Ausnahmeregeln einigen bereits entlassenen Richtern zugutekam. In der Folgezeit wurden jedoch auch die verbliebenen Beamten unter Druck gesetzt und in den Ruhestand gedrängt. Hanemanns Eigeninitiative in der Frage nach Entlassung jüdischer Beamter offenbart, dass rassistische Säuberungen nicht aus Berlin kamen, sondern lokalen und regionalen Initiativen entsprangen, ehe mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ ein reichsweites Instrumentarium installiert wurde, mit dem jüdische Beamte aus ihren Posten verdrängt werden konnten. Bemerkenswerterweise meldete sich mit Hanemann ein Deutschnationaler zu Wort, der allerdings bereits vor 1933 in enger politischer Fühlungnahme mit den Nationalsozialisten stand.

Literatur: Kißener, Michael: Richter der »alten Schule«. Alfred Hanemann, Edmund Mickel, Landgerichtspräsidenten und Vorsitzende des Sondergerichts Mannheim, in: Die Führer der Provinz. NS-Biographien aus Baden und Württemberg, hrsg. v. Kißener, Michael/Scholtyseck, Joachim, Konstanz 1997, S. 201–224.

Quelle: Schreiben Alfred Hanemanns an Johannes Rupp vom 31. März 1933 (GLA 234 Nr. 4052)

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„Die Partei vor eigensüchtige Wünsche spannen“ – Das Karrierestreben einer Karlsruher Lehramtsassessorin und die Widerstände des Kultusministeriums dagegen

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Schreiben der badischen NSDAP-Gauleitung an das Kultusministerium vom 4. Juli 1938 mit der Bitte um wohlwollende Prüfung des Falles Lotte Behm (GLA 235 Nr. 13301) | Klicken zum Vergrößern

Die 1933 in die Schlüsselstellen der Ministerialbürokratie gelangten Nationalsozialisten waren zwar mit den NSDAP-Parteistellen in den politischen Zielen einig, gerieten aber mitunter mit jenen in Konflikt über die Wege, auf denen diese Ziele erreicht werden sollten. Der Verfasser dieser Zeilen hat eine solche Konstellation vor einigen Wochen in einem Blogartikel beleuchtet, der einen Streit zwischen dem badischen Kultusminister Otto Wacker und dem NSDAP-Parteiblatt „Der Führer“ über die Schulpolitik im Jahr 1934 behandelt hat – dabei ging es unter anderem um die Frage, wie Parteimeriten einerseits und fachliche Qualifikationen andererseits bei der Besetzung von Lehrerstellen zu gewichten seien. Wie die badische Kultusministerialbürokratie mit diesem Problem in der Praxis umging, sei im Folgenden anhand eines Beispiels illustriert, in dem der Zielkonflikt zwischen politischer Opportunität und fachlichen Standards besonders deutlich zu erkennen ist.

Es ging hierbei um die 1904 in Karlsruhe geborene Lehramtsassessorin Lotte Behm, die ihre Hochschulreife auf Umwegen – nach vorzeitigem Verlassen der Höheren Mädchenschule 1921 war sie für einige Jahre im Kanzleidienst des badischen Justizministeriums tätig gewesen – erreichte. Dem 1929 nachgeholten höheren Schulabschluss folgte ein Studium der Fächer Deutsch, Geschichte und Französisch an der Universität Heidelberg, das sie 1934 mit dem Staatsexamen abschloss. Ein Jahr später bestand Behm auch das Assessorenexamen; allerdings waren ihre Noten zu schlecht für eine Übernahme in den höheren Schuldienst. Einer Verwendung als Volksschullehrerin, wie sie häufig nicht übernahmefähigen Assessorinnen und Assessoren angeboten wurde, stimmte Behm nicht zu; stattdessen trat sie am Jahresanfang 1937 in den Handelsschuldienst ein. Einen Nebenweg in den von ihr mit Nachdruck angestrebten höheren Schuldienst schien sich für sie dann durch einen akuten Mangel an Turn- und Sportlehrern zu eröffnen: Um sich hierfür zu qualifizieren, legte Behm im Juli 1937 das Deutsche Reichssportabzeichen für Frauen ab.

Als ihre mehrfachen Vorsprachen in eigener Sache im Kultusministerium nicht fruchteten, schaltete Behm das Gaupersonalamt der NSDAP ein, das im Juli 1938 ein weiteres Gesuch Behms um Aufnahme in den höheren Schuldienst unterstützte, in einem Schreiben an das Kultusministerium ihre Verdienste um die Partei, insbesondere ihre führende Stellung im Bund Deutscher Mädel (BDM), hervorhob und darum bat, „sich eine Regelung der Angelegenheit in dem von der Gesuchstellerin angestrebten Sinne angelegen“ sein zu lassen. Behm verwies in ihrem Gesuch auf vielfältige familiäre Widrigkeiten, offenkundig um die schlechten Noten zu rechtfertigen, und hob selbst ihre politischen Meriten hervor: Sie habe sich seit etwa einem Jahrzehnt „für den nationalsozialistischen Gedanken eingesetzt“ und sich in Heidelberg der nationalsozialistischen Studentenschaft angeschlossen. Ein Parteieintritt sei 1933 wegen der Mitgliedersperre nicht geglückt, sie sei aber Mitglied im Heidelberger Ortsverein geblieben, habe dem Opferring angehört und sich während ihrer Referendarzeit darum bemüht, „in den Kreisen des Höheren Schulwesens Sinn und Verständnis für die Bewegung zu wecken“. Seit 1935 sei sie als „BDM Führerin und Schulungsreferentin“ tätig, und die Überführung in die Partei sei im Mai 1937 erfolgt.

Behms Ergebnisse beim deutschen Reichssportabzeichen für Frauen (GLA 235 Nr. 13301) | Klicken zum Vergrößern

Im Kultusministerium reagierte man auf das Gesuch zunächst nicht. Erst als vier Wochen später von Seiten der Gauleitung eine Nachfrage zum Stand der Dinge einging, fertigte der zuständige Referent in der Abteilung für Höhere Schulen, Ernst Fehrle, einen Aktenvermerk an, in dem der Fall Behm aus der ministerialbürokratischen Sicht zusammengefasst wurde. Die wegen ihrer schlechten Noten nicht für den höheren Schuldienst berücksichtigte Lehramtsassessorin habe die „verschiedensten Referenten in ihrer aufdringlichen Art durch Briefe und unzählige Vorsprachen belästigt, um ihre Aufnahme in die Assessorenliste zu erzwingen“. Diesem Anliegen habe nicht entsprochen werden können und könne auch jetzt nicht entsprochen werden, da sie es „über den Weg als Turnassessorin“ versuche. Bei der ersten Zusatzprüfung für Leibesübungen sei sie durchgefallen, und als sie „auf weiteres Flehen“, was „bisher noch nie vorgekommen war“, zu einer Wiederholungsprüfung zugelassen worden sei, habe sie diese zweimal, „angeblich wegen Unpäßlichkeit“, versäumt. Die Prüfung habe sie schließlich nur mit der schlechtesten Note bestanden, woraufhin man ihr im November 1937 „auf ihre erneuten Belästigungen“ mitgeteilt habe, „daß sie als Turnlehrerin in den öffentlichen badischen höheren Schuldienst nicht übernommen werden könne“.

Der Verdruss über die Angelegenheit, der aus diesem Aktenvermerk spricht, ist auch in dem Schreiben deutlich, mit dem das Kultusministerium am 8. August 1938 das Gaupersonalamt im Fall Behm beschied: Die Gesuchstellerin, die seit Jahren „durch Schreiben und unzählige Vorsprachen die verschiedensten Referenten des Unterrichtsministeriums“ belästige, könne aus grundsätzlichen Erwägungen nicht berücksichtigt werden. Eine hohe Anzahl von Assessoren „mit weit besseren Prüfungsleistungen“ sei in den Volks- oder in den Privatschuldienst eingetreten, und Behm sei bereits durch ihre Übernahme in den Handelsschuldienst „ausnahmsweise bevorzugt“ worden. Angesichts des „Charakters von Fräulein Behm“ sei es nicht überraschend, „daß die Assessorin nun die Partei vor ihre eigensüchtigen und durch nichts berechtigten Wünsche zu spannen versucht“. Dem Antrag des Gaupersonalamts könne auch deshalb nicht stattgegeben werden, weil alle anderen nicht übernommenen Assessoren ihres Jahrgangs „eine nochmalige Bevorzugung der Assessorin Behm als schwere Ungerechtigkeit empfinden“ würden.

Antwort aus dem badischen Kultusministerium an Behm vom 16. September 1939 (GLA 235 Nr. 13301) | Klicken zum Vergrößern

Die Gesuchstellerin, der vom Leiter der Abteilung für höhere Schulen, Ministerialrat Herbert Kraft, in ähnlich scharfem Ton die Ablehnung mitgeteilt wurde, brachte dies in einige Verlegenheit, da sie in Erwartung eines positiven Ausgangs der Angelegenheit ihre Pflichten als Handelsschullehrerin offenkundig vernachlässigt hatte. Dies jedenfalls legt ein Schreiben des Direktors der Handelslehranstalten für Mädchen in Karlsruhe nahe, der dem Kultusministerium im September 1938 berichtete, dass Behm es bisher versäumt habe, sich die „für die Durchführung des ihr übertragenen Unterrichts notwendigen betriebswirtschaftlichen Kenntnisse“ anzueignen, „weil sie immer hoffte, in den Schuldienst an Höheren Lehranstalten übernommen zu werden“. Behm habe deshalb bislang nur „mit der Vertretung erkrankter oder einberufener Lehrer in den Fächern Deutsch, Geschichte und Turnen betraut“ werden können. Dies werde sich jedoch bald ändern, da sich Behm verpflichtet habe, „bis Schuljahresbeginn 1939/40 bestrebt zu sein, mir die zur ordnungsgemäßen Durchführung des Unterrichts an Handelsschulen und Höheren Handelsschulen notwendigen grundlegenden betriebswirtschaftlichen Kenntnisse anzueignen und diese durch Ableistung einer mehrwöchigen Ferienpraxis“ zu vertiefen.

Hierzu kam es indes nicht, da schon im Oktober 1938 die Berliner Schulbehörde der mit der Bitte an das badische Kultusministerium herantrat, Behm aus dem badischen Schuldienst zu entlassen, da ihre Übernahme in den höheren Schuldienst der Reichshauptstadt beabsichtigt sei. Einwendungen hiergegen gab es im Kultusministerium – in Anbetracht der Vorgeschichte verständlicherweise – nicht. An welcher Schule in Berlin Behm beschäftigt werden sollte, erschließt sich aus den überlieferten Karlsruher Akten nicht. Ebenso wenig lassen sie erkennen, auf welchen Wegen die Übernahme in den Berliner Schuldienst angebahnt wurde. Dass bei der Erlangung der seit drei Jahren hartnäckig angestrebten Stellung im höheren Schuldienst Parteistellen mitgeholfen haben, ist nicht unwahrscheinlich.

Quelle: GLA 235 13301

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Ein vorbestrafter Nicht-Jurist als Justizminister: Otto Wackers Ernennung zum Leiter des badischen Justizministeriums im April 1933

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Otto Wacker als Hauptschriftleiter des „Führers“ („Der Führer“ vom 1. November 1932, S. 3) | Klicken zum Vergrößern

Auf die seit jeher schwierige Frage, welcher fachlichen Qualifikationen es zur Übernahme eines Ministeramtes bedurfte, ließen sich seit der Demokratisierung der politischen Systeme in der Weimarer Republik kaum noch klare Antworten geben. Von der Öffnung der politischen Spitzenämter für Kandidaten nur nach ihren Parteimeriten blieben lediglich die Justizministerien weitgehend ausgenommen. Hier galt, wenn man auf die Praxis der Ämterbesetzung schaut, weiterhin offenkundig der Grundsatz, dass nur studierte Juristen Justizminister werden konnten: Dies traf auf der Reichsebene vom Sozialdemokraten Otto Landsberg (1919) über den Linksliberalen Eugen Schiffer (1921), den Zentrumsmann Wilhelm Marx (1926) und den Wirtschaftsparteiler Johann Viktor Bredt (1930) bis zum Deutschnationalen Franz Gürtner (1932/33) für alle Justizminister zu.

Ein ähnliches Bild zeigt sich beim Blick auf die landespolitischen Verhältnisse in Baden: Hier folgte dem studierten Juristen Ludwig Marum 1919 der Zentrumsmann und Rechtsanwalt Gustav Trunk, der das badische Justizministerium bis 1929 leitete. Erst in der politischen Krisensituation, die mit dem Bruch der Großen Koalition in Karlsruhe und dem Rücktritt Trunks aus Protest gegen die Fortsetzung der Zusammenarbeit von Zentrum und SPD entstand, gelangte mit dem Sozialdemokraten Adam Remmele ein Nicht-Jurist an die Spitze des Justizministeriums, das er – auch es aus Spargründen – in Personalunion mit dem Kultusministerium leitete. Die gewohnten Zustände wurden allerdings im Sommer 1931 wiederhergestellt, als das Justizressort erneut an das Zentrum fiel und studierte Juristen, zunächst kurzzeitig Franz Joseph Wittemann und anschließend bis zum 11. März 1933 Josef Schmitt, die Leitung übernahmen.

Die badischen Nationalsozialisten knüpften bei ihrer Machtübernahme in Karlsruhe zunächst an diese Tradition an: Die Personalfrage war, glaubt man dem einige Jahrzehnte später entstandenen Bericht des Vorsitzenden der NSDAP-Landtagsfraktion und kommissarischen Leiters des Finanzministeriums Walter Köhler, bei der Regierungsbildung am 10. und 11. März unstrittig: „[F]ür das Justizministerium wurde [Johannes] Rupp vorgesehen. Rupp war kein Starjurist, aber eine zuverlässige und ausgewogene Persönlichkeit, die auch über den Kreis der Partei hinaus Ansehen genoß“. Welches der Attribute – sein Ansehen auch außerhalb der Partei oder der Umstand, dass er, wenn auch kein Star, so doch ein Jurist war – stärker ins Gewicht fiel, steht dahin. Längere Wirksamkeit war Rupp, einem Konvertiten der Deutschnationalen Volkspartei, der sich in der NSDAP seit 1929 einen Namen als Rechtsbeistand in den Blick der Justiz geratener Parteigenossen gemacht und 1930 überraschend zu einem Reichstagsmandat gelangt war, in seinem Amt indes nicht beschieden: Über der Frage, wie mit dem Freiburger sozialdemokratischen Landtagsabgeordneten Christian Daniel Nußbaum, der sich am 17. März seiner „Inschutzhaftnahme“ mit Waffengewalt widersetzt hatte, verfahren werden sollte, kam es zu einem Zerwürfnis Rupps mit dem auf ein rasches Todesurteil in einem Schnellprozess drängenden Reichskommissar und Gauleiter Robert Wagner, woraufhin Rupp am 18. April sein Rücktrittgesuch einreichte.

Zu Rupps Nachfolger ernannte der Reichskommissar noch am gleichen Tag Otto Wacker und führte damit Justiz- und Kultusministerium in Personalunion zusammen. Wie Wacker selbst, der in den Vorwochen mit drastischen Einschnitten in den Personalbestand des Kultusministeriums diese Behörde politisch neu ausgerichtet hatte und mit einem weitgreifenden kulturpolitischen Programm an die Öffentlichkeit getreten war, die Übertragung der Leitung des Justizministerium auf seine Person erlebt hat, erschließt sich aus den Quellen nicht – dass es ihn zur Erweiterung des eigenen Einflussbereiches nach dieser Doppelfunktion gedrängt habe, ist dort ebenso wenig zu erkennen wie das Bedenken, durch eine Zusatzbelastung von seinem kulturpolitischen Hauptbetätigungsfeld ablenkt zu werden. Die feierliche Übernahme seiner neuen Amtsgeschäfte erfolgte am 25. April mit einer Ansprache Wackers vor den Beamten und Angestellten des Justizministeriums, das nun als Abteilung des neugebildeten Ministeriums des Kultus, des Unterrichts und der Justiz firmierte.

Verurteilung Otto Wackers wegen Beleidigung des Badischen Landtags vom 24. März 1930 (GLA 234 Nr. 5716) | Klicken zum Vergrößern

Wacker nutzte die Gelegenheit zu einigen Grundsatzbemerkungen, an deren Anfang er die Versicherung stellte, dass der Verlust der Selbständigkeit des Justizministeriums nicht etwa bedeute, dass „der neue Staat der Justiz geringere Bedeutung beimessen würde“; vielmehr habe sich die Vereinigung „als zwingende Notwendigkeit“ ergeben, „wenn der nationalsozialistische Grundsatz der Vereinheitlichung und Verbilligung der Staatsverwaltung in die Wirklichkeit umgesetzt werden sollte“. Über seine eigene Qualifikation für die Leitung nun auch der badischen Justiz äußerte sich Wacker in einer Weise, die man wahlweise als humoristisch oder als zynisch verstehen konnte: Er selbst sei kein Jurist, sondern mit der Justiz bisher nur „passiv in der Rolle des Prozeßbeteiligten in Berührung gekommen“. Näheres hierüber brauchte Wacker nicht auszuführen, da allseits bekannt war, dass er als Hauptschriftleiter des NSDAP-Parteiblatts „Der Führer“ in den Vorjahren mehrfach wegen Pressevergehen belangt worden war: Er war damals, wie Hans Albrecht Grüninger einige Jahre später in einem Nachruf auf Wacker in Erinnerung rief, „etwa dreißig Mal vor Gericht gestanden und fünf Mal auch verurteilt worden“, zum Beispiel im März 1930 wegen Beleidigung des badischen Landtags zu einer Geldstrafe von 600 Reichsmark. Diese Erfahrungen, so ließ Wacker die Beamten und Angestellten des Justizministeriums in seiner Antrittsrede wissen, jedenfalls waren ihm „sehr wertvoll, denn das hat mir Einblicke in die Justiz vermittelt, die gewöhnlich der Minister oder der Aufsichtsbeamte nicht zu haben pflegt“.

Eine Rechtfertigung für seine Vorstrafen brauchte der frischgekürte Leiter des badischen Justizministeriums nicht vorzutragen, waren diese doch für politische Vergehen verhängt worden, die die nun in vollem Gang befindliche Überwindung des demokratischen Rechtsstaats durch die Nationalsozialisten zum Ziel gehabt hatten. Auch waren in diesen Wochen in größerer Zahl vorbestrafte nationalsozialistische Parteimänner in hohe Staatsämter – nicht zuletzt Adolf Hitler ins Reichskanzleramt – gelangt. Dass jedoch in Baden, anders als in Bayern und Württemberg, wo mit Hans Frank und Jonathan Schmid juristisch ausgebildete Nationalsozialisten an die Spitze der Justizverwaltungen gelangten, mit Wacker ein Nicht-Jurist die Leitung des Justizressorts übernahm und dieser zudem noch damit kokettierte, die Justiz nur aus der Perspektive der Angeklagtenbank zu kennen, ist doch bemerkenswert. Man dürfte nicht weit fehlgehen, hierin einen Ausdruck des gewachsenen Selbstvertrauens der Nationalsozialisten zu sehen. Anders als einige Wochen zuvor hielten sie es offenkundig schon Mitte April 1933 nicht mehr für erforderlich, die eigene Machtübernahme als einen Regierungswechsel nach vertrauten staatspolitischen Gepflogenheiten zu verschleiern.

Quelle: Badisches Justizministerialblatt Nr. 9, 1933.

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Vertreibung durch den Gauleiter oder Selbstopferung aus Spargründen? Der Rücktritt des Leiters des badischen Justizministeriums Johannes Rupp nach fünfwöchiger Amtszeit im April 1933

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Eidesstaatliche Erklärung Walter Köhlers über Johannes Rupp (GLA 465 f Nr. 1727) | Klicken zum Vergrößern

Über die Vorgeschichte und die Begleitumstände der Bildung der kommissarischen Regierung, deren Einsetzung am 11. März 1933 das Schlüsselereignis der nationalsozialistischen Machtübernahme war, liegen nur spärliche zeitgenössische Quellen vor. Wem die kommissarische Leitung des Justizministeriums zufallen sollte, war, glaubt man der viel später entstandenen politischen Autobiographie des Vorsitzenden der NSDAP-Landtagsfraktion und kommissarischen Leiters des Finanzministeriums Walter Köhler, unstrittig: „[F]ür das Justizministerium wurde Rupp vorgesehen. Rupp war kein Starjurist, aber eine zuverlässige und ausgewogene Persönlichkeit, die auch über den Kreis der Partei hinaus Ansehen genoß“.

Johannes Rupp, im nordbadischen Reihen 1903 geboren und damit jüngster der am 11. März 1933 ins Amt gelangten Kommissare, war der Sohn des gleichnamigen Landwirts, Bürgermeisters und rechtskonservativen Reichstagsabgeordneten (1907 bis 1918 für den Bund der Landwirte). Da in seinem Elternhaus „stets ein politischer Wind“ wehte, hatte Rupp schon „von frühester Jugend an“ die „Absicht, die politische Laufbahn einzuschlagen“. Um diese zu verwirklichen, nahm Rupp nach dem 1921 in Bruchsal abgelegten Abitur ein Studium der Rechtswissenschaft und Geschichte in Heidelberg auf, das er zügig abschloss. 1927 wurde Rupp zum Gerichtsassessor ernannt und ließ sich als Rechtsanwalt beim Landgericht in Karlsruhe nieder.

Bereits während seines Studiums war Rupp in dem „völkisch“ orientierten Deutschen Hochschulring aktiv gewesen, und noch als Referendar war er dem Karlsruher Kreisverein der DNVP beigetreten, in dem er rasch zum zweiten Vorsitzenden und Landtagskandidaten avancierte. Mit der NSDAP hatte er, so Rupp in einem Lebenslauf aus dem Jahr 1947, „ursprünglich nichts zu tun, ich lehnte sie ab. In Berührung mit ihr kam ich erstmals als Verteidiger von Angehörigen derselben in meiner Eigenschaft als Rechtsanwalt. Der Idealismus ihrer Anhänger, das stete Einsetzen für ihre Idee und die Opferfreudigkeit machten tiefen Eindruck auf mich. Gerade diese Eigenschaften vermisste ich bei den Angehörigen meiner Partei. Durch meine berufliche Tätigkeit bekam ich auch Umgang mit den Führern der NSDAP in Baden. Dieselben gefielen mir. Nach harten inneren Kämpfen entschloss ich mich zum 1.12.1929, der NSDAP beizutreten“.

In der NSDAP machte Rupp eine steile Karriere, denn er wurde bereits im September 1930 in den Reichstag gewählt. Popularität gewann Rupp mit einer regen Rednertätigkeit für die NSDAP und auch, indem er sich der Gauleitung als „Justiziar“ zur Verfügung stellte. „Als solcher hatte ich vor allen Dingen die Aufgabe, als politischer Strafverteidiger tätig zu sein und die Gauleitung in Rechtsfragen zu beraten. Aus dieser Tätigkeit entstand das Gaurechtsamt. Ich glaube, dass es erst seit 1934 so benannt wurde“. Als „Justiziar“ der badischen NSDAP trat Rupp nicht nur als Verteidiger einzelner Parteigenossen vor den badischen Gerichten auf, sondern suchte auch die größere Bühne, zum Beispiel schon im Juli 1930 mit einer Klage beim Staatsgerichtshof in Leipzig, mit der ein verfassungswidriges Verhalten der badischen Regierung in ihrer Beamtenpolitik festgestellt werden sollte.

Meldebogen Rupps (GLA 465 f Nr. 1727) | Klicken zum Vergrößern

Mit seinem Amt in der Gauleitung und dem Renommee als Reichstagsabgeordneter konnte Rupp im März 1933 als „ministrabel“ gelten, auch wenn er sich selbst in seinem Spruchkammerverfahren klein machte und behauptete, nur die zweite Wahl für die kommissarische Leitung des Justizministeriums gewesen zu sein: „Es war ursprünglich vorgesehen, dass eine andere nicht der NSDAP angehörende Persönlichkeit dieses Amt übernehmen sollte. Ich wurde eines Morgens am Tag der Uebernahme der Tätigkeit des Reichskommissars für mich unvermutet telefonisch angerufen mit dem Ersuchen, die Justizverwaltung zu übernehmen“. Dem habe er sich nicht entziehen wollen, zumal ihm der zufällig anwesende, kurz zuvor amtsenthobene Karlsruher Polizeipräsident Paul Haußer geraten habe zuzusagen: „Uebernimm es, es ist dann wenigstens ein Vernünftiger dabei“. Von der Vernunft und nicht vom Parteieifer habe er sich auch in seiner Amtsführung leiten lassen: „Ich übernahm das Ministerium und hatte einen sehr schweren Stand. Ich übernahm alle alten Beamten, welche sich auch vorbehaltlos zur Verfügung stellten. Lediglich der Generalstaatsanwalt wurde, obwohl er auch sich dem neuen Regime zur Verfügung stellen wollte, vorläufig beurlaubt. Sogar den Sekretär des bisherigen Ministers übernahm ich als meinen eigenen. Den Versuchen, in die Justiz einzugreifen, Richter und Staatsanwälte unter Druck zu setzen, setzte ich mich mit aller Entschiedenheit entgegen“.

In seinem Spruchkammerverfahren, das mit seiner letztlichen Einstufung als „Minderbelasteter“ endete, konnte Rupp seine These, er sei ein Mann der Kontinuität gewesen, damit glaubhaft machen, dass er sich in einem Fall tatsächlich für den Erhalt rechtsstaatlicher Prinzipien eingesetzt hatte. Hierbei handelte es sich um die in der nationalsozialistischen Presse weidlich erörterte und zu einem badischen Äquivalent des Reichstagsbrandes skandalisierte Erschießung zweier Freiburger Polizeibeamter durch den sozialdemokratischen Landtagsabgeordneten Christian Daniel Nußbaum, der sich in den frühen Morgenstunden des 17. März 1933 in seiner Wohnung der „Inschutzhaftnahme“ mit Waffengewalt widersetzte. Nußbaum wurde wegen Mordes und dreifachen versuchten Mordes in Untersuchungshaft genommen, aus der er nach dem Willen des Reichskommissars nicht mehr hätte freikommen sollen. Wagner nämlich forderte von Rupp, so zumindest gab dieser es später zu Protokoll und ließ er es auch von seinem früheren Staatskommissarskollegen Köhler bestätigen, dass Nußbaum „zum Tode verurteilt werden“ müsse, „und zwar innerhalb 3 x 24 Stunden“.

Dieses Ansinnen habe er, so Rupp, abgelehnt und sich geweigert, dem zuständigen Gericht eine entsprechende Weisung zu erteilen. Wagner habe daraufhin „getobt“ und am nächsten Tag Rupps Rücktrittsgesuch gefordert. Die Nachfrage des Vorsitzenden der Spruchkammer, wann genau dies gewesen sei, brachte Rupp in einige Verlegenheit, und er musste die Tötung der Freiburger Polizeibeamten durch Nußbaum um drei Wochen auf den „5. oder 6. April“ verschieben, um einen engen zeitlichen Zusammenhang mit seinem Rücktrittsgesuch vom 18. April – dieses datierte Rupp der Spruchkammer gegenüber vorsichthalber um einige Tage auf den 13. April vor – herstellen zu können. Den Zusammenhang seines Rücktritts mit dem Fall Nußbaum bekräftigte Rupp dann vorsichtshalber auch noch apodiktisch: „Es war so: denn ich bin Knall und Fall hinausgeschmissen worden. Das wird auch Demmer bezeugen können, der damals mein Sekretär war“. Der Justizbeamte Friedrich Demmer war dazu allerdings nicht in der Lage. An den Fall Nußbaum konnte er sich „nur schwach“ erinnern. Es sei seinerzeit zwar viel darüber gesprochen worden, aber er könne „nicht viel dazu sagen, warum Rupp nach so kurzem Gastspiel aufhörte“.

Spruchkammerurteil vom 30. Januar 1948 (GLA 465 f Nr. 1727) | Klicken zum Vergrößern

Aus den vom März und April 1933 überlieferten Quellen lässt sich nicht klären, welcher genaue Zusammenhang zwischen dem Fall Nußbaum und dem Rücktritt Rupps bestand; deutlich zu erkennen ist dort aber, dass die von Rupp später behauptete enge zeitliche Folge – unmittelbar nach seiner Weigerung, einen Schnellprozess gegen Nußbaum zu veranlassen, sei er von Wagner zur Vorlage seines Rücktrittsgesuchs aufgefordert worden – nicht stimmte. Vielmehr brachte Rupp die Einsparung einer separaten Leitung des Justizministeriums und damit seinen eigenen Rückzug aus der kommissarischen Regierung bereits bei deren Sitzung am 27. März ins Spiel. Rupp führte dort aus, so das Protokoll, „die badische Justizverwaltung sei klein. Der Posten des Justizministers sei nach seiner sachlichen Bedeutung und Arbeit einsparbar. Das Justizministerium werde am besten dem Unterrichtsministerium angegliedert“. Wagner allerdings wollte davon am 27. März noch nichts wissen und hielt „ein selbständiges Justizministerium zum mindesten für die Zeit der Rechts- und Verwaltungsreform für unentbehrlich“.

Das in der Kabinettssitzung vorgebracht Sparargument machte Rupp in seinem Schreiben vom 18. April 1933 an Wagner erneut geltend, in dem er darauf hinwies, „daß für ein so kleines Land wie Baden drei Minister mehr als ausreichend sind. Da das Justizministerium den weitaus kleinsten Aufgabenkreis hat, ist die Stelle des Justizministers am ehesten überflüssig“. Meinungsverschiedenheiten mit Wagner über seine Amtsführung sprach Rupp dort nicht an – auch nicht in verklausulierter Form. Da sonst keine Quellen aus diesen Wochen zu den Umständen seines Rücktritts vorliegen, bleibt der Verdacht, dass Rupp seinen Streit mit Wagner in der Causa Nußbaum vielleicht nicht frei erfunden, aber wohl doch erheblich dramatisiert hat, um vor der Spruchkammer Pluspunkte zu sammeln, die er für eine Entscheidung, die ihm die berufliche Integration in die Nachkriegsgesellschaft ermöglichte, dringend benötigte.

Quelle: GLA 465 f 1727

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