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Channel: Blog – Geschichte der Landesministerien in Baden und Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus
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Ausgleichszahlungen an „verfolgte“ Nationalsozialisten durch die badische Ministerialbürokratie

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Zu den wichtigen Versatzstücken nationalsozialistischer Propaganda zählten nach der Machtübernahme die Pflege der Erinnerung an die vermeintlich heroische Kampfzeit der NSDAP vor 1933 und die Würdigung des persönlichen Einsatzes „Alter Kämpfer“, ohne deren Standhaftigkeit und Prinzipientreue, so die Legende, die Eroberung der politischen Macht nicht hätte gelingen können. Ein besonderer Prestigegewinn wurde den echten „Märtyrern“ zuteil, die ihr Leben im Kampf für die nationalsozialistische Sache gelassen hatten, auch wenn sie nur noch symbolisch gewürdigt werden konnten – in Baden zum Beispiel 1934 durch die Aufnahme einer Karte in den „Heimatatlas der Südwestmark Baden“, in der die Todesorte der „Kameraden, die Rotfront und Reaktion erschossen“ (S. 45), eingezeichnet waren. Andere Anerkennungsoptionen gab es bei den „Alten Kämpfern“, die zwar an Leib und Leben unversehrt geblieben waren, aber vor 1933 in ihrem beruflichen Fortkommen Schaden genommen hatten. In Baden traf dies auf eine kleinere Zahl öffentlich Bediensteter, ganz überwiegend Lehrer, zu, gegen die Dienststrafverfahren wegen agitatorischer Betätigung für die NSDAP geführt worden waren. Sie materiell zu entschädigen, galt den neuen Machthabern in den Landesministerien im Frühjahr 1933 als Ehrenpflicht.

Bitte um Erlass der Geldstrafe von Justizsekretär Gebhard Hund | Klicken zum Vergrößern

Einblicke in die Praxis dieser Form der „Wiedergutmachung“ erlaubt ein schmales Aktenfaszikel im Generallandesarchiv Karlsruhe, in dem unter dem Titel „Disziplinarverfahren und Diziplinarerkenntnisse, hier: gnadenweiser Nachlass der ausgesprochenen Geldstrafen“ einige Fälle dokumentiert sind. Der erste stammt aus dem Zuständigkeitsbereich des Justizministeriums und datiert vom 11. März 1933, also dem Tag, an dem Johannes Rupp als kommissarischer Leiter dieses Ministeriums seine Tätigkeit aufnahm. In einer seiner mutmaßlich allerersten Amtshandlungen beantragte Rupp beim Staatsministerium, dem bei den Strafanstalten Bruchsal beschäftigten Justizsekretär Gebhard Hund die noch ausstehenden 60 Reichsmark einer Geldstrafe zu erlassen, die im Vorjahr gegen ihn ausgesprochen worden war, weil er sich in dienstpflichtverletzender Weise an der Herausgabe eines Wahlflugblatts der NSDAP beteiligt hatte. Das Staatsministerium stimmte – das Datum des Beschlusses geht aus der Akte nicht hervor – diesem Antrag zu.

Ließ sich im Falle des Justizsekretärs Hund auf unkomplizierte Weise das Gnadenrecht anwenden, so stellten sich andere Fälle, in denen Geldstrafen bereits vollständig geleistet worden waren, als deutlich schwieriger dar, auch weil geklärt werden musste, aus welchen Mitteln „Wiedergutmachungszahlungen“ bestritten werden sollten. Anlass zu Diskussionen im Staatsministerium hierüber bot ein Antrag des kommissarischen Leiters des Kultusministeriums, Otto Wacker, drei nationalsozialistische Volksschullehrer für die gegen sie in den Vorjahren verhängten Geldstrafen sowie die Verfahrens- und Stellvertretungskosten zu entschädigen: Bei Josef Eckert aus Villingen waren dies 1.041 Reichsmark, bei Otto Kratt aus Mönchweiler 781 und bei Emil Gärtner, seiner eigenen Einschätzung nach der „meistverfolgte Volksschullehrer im alten Staate“, 373. Eine Rechtsgrundlage für den Ersatz dieser Beträge erblickte Wacker in der Verordnung des Reichspräsidenten vom 21. März 1933 über die „Gewährung von Straffreiheit“, die eine weitreichende Amnestierung von Straftaten ermöglichte, „die im Kampfe für die nationale Erhebung des Deutschen Volkes, zu ihrer Vorbereitung oder im Kampfe für die deutsche Scholle begangen“ worden waren. Wackers Einschätzung, dass diese Verordnung auf die drei zur Diskussion stehenden Fälle anzuwenden war, teilte das Staatsministerium allerdings nicht: Der gegebene Sachverhalt der Rückzahlung bereits geleisteter Geldstrafen finde „im Wortlaut der Verordnung vom 21. März keine Deckung“, legte Walter Köhler, inzwischen Ministerpräsident und Finanz- und Wirtschaftsminister, Ende Juni 1933 dar, präsentierte aber zugleich einen anderen Lösungsweg: „Die Erstattung soll ausnahmsweise aus den Mitteln des allgemeinen Fonds der Regierung für im Staatshaushaltsplan nicht vorgesehene Bedürfnisse persönlicher und sachlicher Art erfolgen“.

Karl Lenz (aus: Reichstags-Handbuch, VI. Wahlperiode 1932, hrsg. v. Büro des Reichstags, Berlin 1932) | Klicken zum Vergrößern

Als Wacker ein knappes Jahr später mit einem weiteren Fall vorstellig wurde – der Bürchauer Lehrer Hermann Hornung sollte mit 868 Reichsmark für erlittene politische Verfolgung entschädigt werden –, erklärte Köhler eine Kostenübernahme auf den allgemeinen Fonds der Regierung für nicht möglich, stellte dem Kultusminister aber anheim, den Betrag auf den eigenen Haushalt zu nehmen, was dann auch geschah. Dies hatte Wacker zuvor auch schon in anderen Fällen getan, bei denen es um kleinere Summen gegangen war, etwa im Mai 1933 zugunsten des Mannheimer Gewerbeschullehrers Erwin Otto Schmidt, dem die 1930 gegen ihn verhängte Geldstrafe in Höhe von 100 Reichsmark sowie 68 Reichsmark für seine Verfahrenskosten rückerstattet wurden, obwohl zweifelhaft gewesen sein mochte, ob Schmidt überhaupt dem Rollenbild des „Alten Kämpfers“ entsprach – in dem langwierigen Streit um seine Weiterbeschäftigung nach 1945 jedenfalls wurde das wenig schmeichelhafte Gerücht kolportiert, er habe während des Disziplinarverfahren von 1930 „unter Tränen Abkehr vom Nationalsozialismus versprochen“.

Der mit Abstand prominenteste „Wiedergutmachungsfall“ und auch der mit dem bei weitem größten finanziellen Volumen war der des NSDAP-Reichstagsabgeordneten Karl Lenz, der bis 1930 zu den führenden Köpfen der badischen Nationalsozialisten gezählt hatte, dann zum Gauleiter von Hessen-Darmstadt avanciert, aber schon vor der Machtübernahme als Sympathisant des Strasser-Flügels der NSDAP in eine Außenseiterposition geraten war. Dies hinderte seine früheren badischen Parteigenossen nicht daran, ihn anlässlich seines Ausscheidens aus dem badischen Staatsdienst – Lenz war 1929 wegen seiner politischen Aktivitäten als Lehrer in den Ruhestand versetzt worden – am Jahresende 1934 großzügig abzufinden. Unter Berufung auf das Gesetz  über die „Aufhebung der im Kampf für die nationale Erhebung erlittenen Dienststrafen und sonstigen Maßregelungen“ vom 23. Juni 1933 wurden ihm für entgangenes Gehalt 19.780 Reichsmark nachträglich ausgezahlt; dies dürfte mindestens das Dreifache des Jahresgehalts, das er als Volksschullehrer vor seiner Versetzung in den Ruhestand bezogen hatte, gewesen sein.

Adolf Schuppel (aus: GLA 231/2937 (1038)) | Klicken zum Vergrößern

Direkte „Wiedergutmachungszahlungen“ wie die erwähnten waren eine offenkundige Form der Rehabilitierung „verfolgter“ Nationalsozialisten, aber nicht die einzige Möglichkeit, sie zu entschädigen. Sowohl den Fallzahlen als auch dem finanziellen Aufwand nach größere Bedeutung hatten die Beförderungen von Altparteigenossen, die vor 1933 gemaßregelt worden waren oder meinten, zurückgesetzt worden zu sein. So fiel für den Mannheimer Gewerbeschullehrer Schmidt die Rückzahlung von 168 Reichsmark vermutlich kaum ins Gewicht in Anbetracht der Tatsache, dass er 1933 als Referent ins Kultusministerium berufen wurde und dort rasch zum Oberregierungsrat aufstieg. Auch andere „verfolgte“ Lehrer erlebten nach der Machtübernahme eine steile berufliche Karriere: Der Schwanenbacher Volksschullehrer und „Alte Kämpfer“ Adolf Schuppel etwa wurde 1933 zunächst zum Rektor der Volksschule Hornberg befördert, avancierte noch im gleichen Jahr zum Kreisschulrat in Villingen und ließ sich, wenige Wochen nach seiner Ernennung zum Kreisoberschulrat, mit der eine auskömmliche Besoldungsstufe erreicht war, zum Jahresende 1934 auf der Grundlage einer Haushaltsnotverordnung aus dem Jahr 1931 als 39-jähriger in den Ruhestand versetzen. Schuppel übernahm dann die hauptamtliche Leitung des Gaupersonalamts der NSDAP; sein staatliches Ruhegehalt bildete dabei eine solide Sockelfinanzierung seines Parteiamts. Die Förderung eines „verfolgten“ Nationalsozialisten – auch Schuppel hatte eine vorläufige Außerdienstsetzung, einen Verweis und eine Geldstrafe von 100 Reichsmark vorzuweisen – kam in diesem Fall also nicht nur ihm selbst, sondern der gesamten Partei zugute.

Quelle: GLA 233 24166

 


Im Schatten der nationalsozialistischen „Euthanasie“? Die Karriere der elsässischen Regierungssekretärin Gertrud Erna Wolff

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Ein Teil unseres Forschungsprojekts widmet sich der nationalsozialistischen Herrschaft im Elsass, die vornehmlich aus dem angrenzenden Baden durch die dortigen Landesministerien organisiert wurde. In einem Hauptseminar, das Prof. Sylvia Paleletschek und Dr. Marie Muschalek im Wintersemester 2016/17 anboten, beschäftigten sich Studierende der Universität Freiburg mit dieser Grenzgeschichte. Der folgende Beitrag ist Teil einer Reihe von Artikeln, die im Rahmen des Seminars entstanden sind.

Gertrud Erna Wolff wurde am 15. Juli 1896 in Straßburg als Tochter des Oberpostsekretärs Albert Wolff geboren. In dem evangelischen, bürgerlich geprägten Haushalt sah man sich selbst als „preußische Staatsangehörige“. Vermutlich als „Altdeutsche“ in der Reichslandzeit ins Elsass gekommen, gehörte die Familie Wolff 1918 zu jenen Deutschen, die das Elsass verlassen mussten, als es wieder in den französischen Staat eingegliedert wurde. Die zehnköpfige Familie musste dabei laut Selbstaussage mehrere Häuser in Straßburg zurücklassen.

Gertrud Wolff, ca. 1935 (GLA Karlsruhe 466-2 Nr. 11147) | Klicken zum Vergrößern

Nachdem Gertrud Wolff die mittlere Reife abgeschlossen hatte, besuchte sie die Handelsschule und nahm erste Tätigkeiten in verschiedenen Firmen hauptsächlich im Raum Rastatt an. Als Büro- und Schreibkraft erlernte sie das Schreibmaschinenschreiben – zu dieser Zeit eine gesuchte Qualifikation, um Diktate „schnell in fehlerfreier Sprache in Maschinenschrift zu übertragen.“ Als „Maschinenschreiberin“ trat sie zunächst 1922 beim Bezirksamt Rastatt in den öffentlichen Dienst ein, in dem sie auch bis 1934 verblieb.

Als im selben Jahr in Rastatt eine neue Pflegeanstalt im ehemaligen Garnisonslazarett errichtet wurde, bewarb sich Gertrud Wolff dort aus eigenem Antrieb um eine Stelle. Ihr Vater sei frisch verstorben und sie wolle diesen Einschnitt nutzen, um den schon lange gehegten Wunsch nach „mehr Selbständigkeit und Abwechslung“, weg von „Schreibmaschinenarbeiten und [der] Aufnahme von Stenogrammen“, umzusetzen. Unter dem für einen rigiden Sparkurs auf Kosten der Insassen berüchtigten Anstaltsleiter Dr. Arthur Schreck nahm Gertrud Wolff im Frühjahr 1934 ihre Karriere in Heil- und Pflegeanstalten – Rastatt sollte nicht die einzige bleiben – zunächst als „Kanzleigehilfin“ auf. Schreck war nicht nur ein willfähriger und überzeugter Gutachter über Leben und Tod bei der sogenannten „Aktion T4“ der Nationalsozialisten, dem organisierten Töten von körperlich und geistig behinderten Menschen sowie psychisch Auffälligen in den Jahren 1940 bis 1941. Auch war die Pflegeanstalt Rastatt dafür bekannt, auf Kosten der Lebens- und Versorgungsbedingungen der Bewohner besonders kostensparend zu arbeiten. So sollen die Räume stark überfüllt, Essensrationen knapp und Therapieangebote kaum vorhanden gewesen sein. Als reine „Verwahranstalt“ konzipiert, bemängelte Schreck abfällig, er erhalte „an Krankenmaterial fast nur Ausschuss“. 1948 wurde Schreck wegen seiner Beteiligung an „Euthanasie“-Verbrechen zu 12 Jahren Gefängnis verurteilt, von denen er aber wie so viele Verurteile nur einen Bruchteil absitzen musste.

Wie andere badische Heil- und Pflegeanstalten war auch Rastatt ab Ende 1939 von diesen „planwirtschaftlichen Maßnahmen“ – eine euphemistische Umschreibung der „Aktion T4“ – betroffen. Sie wurde Anfang 1940 „aufgelöst“ und ihre Bewohner „in eine andere Anstalt verlegt“. Diese harmlos klingenden Umschreibungen bedeuteten für viele der Heiminsassen  die Verbringung in die Tötungsanstalt im ehemaligen Jagdschloss Grafeneck bei Stuttgart und den Tod unter menschenunwürdigen Bedingungen.

Schloss Grafeneck (von –Xocolatl 20:57, 6 September 2007 (UTC) – Eigenes Werk, Gemeinfrei, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=2693514) | Klicken zum Vergrößern

Gertrud Wolff war dabei sicherlich nicht eigenhändig an der beschönigend als „Euthanasie“ bezeichneten Tötung „lebensunwerten Lebens“ beteiligt. Doch war sie als Rädchen im Getriebe als Büro-, später als Wirtschaftskraft, sicherlich Mitwisserin. Nach der Auflösung der Rastatter Anstalt – in der Folge auch in der Heil- und Pflegeanstalt Illenau, später noch in Wiesloch – war sie damit beschäftigt, die „administrative Auflösung“ zu übernehmen. Ihre Aufgabe war es, übrig gebliebenes Inventar zu sichten, offen gebliebene Rechnungen abzuwickeln sowie Verwaltungsvorgänge, die mit Auflösung der Anstalt verbunden waren, zu regeln. Bezahlt wurde sie von der sogenannten „Abwickelungsstelle“ in Wiesloch.

Ein Blick auf ihren Werdegang ist notwendig, um ihre daran anschließende Zeit im Elsass zu verstehen, denn auch dort war Gertrud Wolff im Gesundheitswesen beschäftigt. In den Heil- und Pflegeanstalten hatte sie bis dahin erfolgreich eine Karriere von der „Kanzleigehilfin“ über „Kanzlistin“ zur  „Obere[n] Wirtschaftsbeamtin“ durchlaufen – was für sie eine Verbeamtung zunächst auf Zeit, dann auf Lebenszeit sowie einen Aufstieg um insgesamt zwei Besoldungsstufen auf A8a bedeutete. Der NSDAP trat Gertrud Wolff schon 1937, nachdem die Partei ihren Aufnahmestopp beendet hatte, bei.

Im November 1940 bat Gertrud Wolff dann um eine Versetzung nach Straßburg. Wieder ging die Initiative von ihr aus, sie argumentierte explizit mit dem Wunsch, „in die Heimat zurückzukehren“, in der ihre „Eltern […] fast 40 Jahre gelebt haben.“ Erst nach Beendigung aller Abwickelungsarbeiten wurde ihrem Antrag stattgegeben. Ab dem 1. November 1941 trat sie beim Chef der Zivilverwaltung im Elsass ihren Dienst in der Abteilung Gesundheitswesen an, auch hier wieder als Obere Wirtschaftsbeamtin. Als sogenannte „Altdeutsche“, die vor 1918 im Elsass gelebt hatte, kam sie für die Deutschen prinzipiell auch für mittlere Verwaltungsaufgaben in Frage.

Gertrud Wolff, nach 1945 (StAF 30.1 2223) | Klicken zum Vergrößern

Blickt man auf Gertrud Wolffs Lebensweg in der Nachkriegszeit, so ist den wenigen Angaben in den überlieferten Spruchkammerakten zu entnehmen, dass sie zunächst degradiert und auf Bewährung verurteilt wurde. Nach einer „Revision von Amts wegen“ konnte sie allerdings 1949 ihre Säuberungsbescheinigung als „Mitläuferin“ ausgestellt bekommen. Kurz nach Kriegsende fand sie bereits wieder Arbeit im Landratsamt Lörrach, auch hier als Regierungssekretärin. Ungebrochen war sie – wohl aufgrund ihrer Expertise – wieder für das Gesundheitswesen zuständig, zu dessen Aufgabenfeldern abermals die „Irrenfürsorge“ gehörte. 1957 konnte sie ihre Karriere sogar mit einer Beförderung zur „Regierungsobersekretärin“ fortsetzen, gegen die der „Personalrat […] keinerlei Bedenken“ hatte. Bereits im Folgejahr trat sie dann – 62-jährig – ihren Ruhestand an. Was sie nach ihrer Berufszeit tat und wo sie schließlich verstarb – darüber geben ihre Beschäftigungs- und auch Entnazifizierungsakten keine Auskunft. Mit etwas Glück könnten derlei Angaben im Stadtarchiv Lörrach noch zu ermitteln sein.

Taucht man wie bei Frau Wolff in den Werdegang einer Frau im Nationalsozialismus ein, so verdeutlichen sich die Zwänge, denen sie unterlag. Gleichzeitig können aber auch Handlungsspielräume und insbesondere bei ihr Eigeninitiativen ausgemacht werden. An Gertrud Wolffs relativ ungebrochener Karriere über 1945 hinaus kann man – wie in vielen Bereichen der deutschen Gesellschaft – Kontinuitäten ausmachen. Obwohl das Gesundheitswesen ein durch den Nationalsozialismus besonders belasteter Bereich war, wurde Personal in die Nachkriegszeit übernommen und auch die Zuständigkeiten für Heil- und Pflegeanstalten beibehalten. Es wäre spannend, zu untersuchen, ob mit diesen personelle Kontinuitäten auch spezifische Verwaltungspraktiken des Nationalsozialismus überlebten und wie sich die Verwaltung der badischen Heil- und Pflegeanstalten nach 1945 weiter entwickelte.

Quelle: GLA, 466-2, Nr. 11147; StAF, F 30.1, Nr. 2223 (Auszüge).

 

Verwendete Quellen

Archives Départementales Bas-Rhin (ADBR), 127 AL 1475.

ADBR, 126 AL 123, „Medizinalwesen Irrenfürsorge“, darin „Medizinalwesen der Irrenfürsorge. Allgemeines, Verordnungen etc.“.

GLA, 466-2, Nr. 11147.

StAF, D 180.2, Nr. 12374.

StAF, F 30.1, Nr. 2223.

Verwendete und weiterführende Literatur

Zu den Prozessen gegen Dr. Schreck und Dr. Sprauer liegen digitalisiert einsehbare Quellen beim Staatsarchiv Freiburg vor, beispielsweise unter URL: https://www2.landesarchiv-bw.de/ofs21/bild_zoom/zoom.php?bestand=8010&id=168261&gewaehlteSeite=05_0000022475_0001_5-22475-1.jpg&screenbreite=1366&screenhoehe=768 [05.01.17].

Aly, Götz: Die Belasteten. ‚Euthanasie‘ 1939 – 1945. Eine Gesellschaftsgeschichte, Frankfurt a. M. 2013.

Brink, Cornelia: Grenzen der Anstalt. Psychiatrie und Gesellschaft in Deutschland 1860 – 1980 (= Moderne Zeit XX), Göttingen 2010.

Faulstich, Heinz: Von der Irrenfürsorge zur „Euthanasie“. Geschichte der badischen Psychiatrie bis 1945, Freiburg 1993.

Habay, Murielle/Herberich-Marx, Geneviève/Raphael, Freddy: L’identité – stigmate. L’extermination de malades mentaux et d’asociaux alsaciens durant la seconde guerre mondiale, in: Revue des Sciences Sociales de la France de l’Est 18 (1990/91), S. 38 – 62.

Klee, Ernst: „Euthanasie“ im NS-Staat. Die „Vernichtung lebensunwerten Lebens“, Frankfurt a. M. 1983 [Die doch schon etwas ältere Untersuchung ist als durchaus gründlich einzuschätzen und wird in der Forschung bis heute noch als Standardwerk gehandhabt].

Klee, Ernst: Was sie taten – was sie wurden. Ärzte, Juristen und andere Beteiligte am Kranken- oder Judenmord, Frankfurt a. M. 1986.

Landeszentrale für politische Bildung (Hrsg.): Grafeneck 1940. „Wohin bringt ihr uns?“. NS-„Euthanasie“ im deutschen Südwesten. Geschichte, Quellen, Arbeitsblätter, Stuttgart 2011. [Online erreichbar unter URL: http://www.gedenkstaetten-bw.de/fileadmin/lpb_hauptportal/pdf/bausteine_materialien/material_grafeneck2011.pdf] [04.01.17].

Rüter, C./Mildt, D.: Justiz und NS-Verbrechen, Bd. IV, Verfahren Nr. 191 – 224 (1949 – 1950) [Online erreichbar unter URL: http://www1.jur.uva.nl/junsv/brd/Angeklagtenfr.htm] [04.01.17].  In der Namensliste: Schreck, Arthur.

Stöckle, Thomas: Grafeneck 1940. Die Euthanasie-Verbrechen in Südwestdeutschland, Tübingen 2002.

Wie der Rechtsanwalt Hans Elsas 1933 um seine Zulassung kämpfte

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Kopf eines ersten Schreibens von Hans G. Elsas an das württembergische Justizministerium, 21.4.1933, HSTAS EA4-150 Bü322

Mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ (BBG) vom 7. April 1933 wurde zugleich das „Reichsgesetz über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft“ erlassen. Beide Gesetze zielten vor allem darauf ab, einerseits „Nichtarier“, also Juden und in der perfiden Kategorisierung des NS-Staates zu Juden erklärte Personen, und andererseits politisch unliebsame Beamte aus dem Staatsdienst und der Justiz zu drängen. Auch für zahlreiche Juristen aus Württemberg bedeuteten die restriktiven Gesetze und nachfolgenden Verordnungen große Einschnitte in die berufliche Existenz. Ein in vielerlei Hinsicht besonders bemerkenswerter Fall ist der des Rechtsanwaltes Hans G. Elsas aus Stuttgart.
Hans Elsas, geboren am 1. März 1894 in Stuttgart, hatte seine Zulassung als Rechtsanwalt am Landgericht und Oberlandesgericht in Stuttgart 1923 erhalten. Elsas entstammte einer Juristenfamilie und hatte Beziehungen zu hohen Funktionsträgern in der Justiz: So waren nicht nur sein Großvater und Vater schon als Juristen tätig. Elsas heiratete zudem Theresia Reichert, die Tochter des Senatspräsidenten a. D. am Reichsgericht und Vorsitzenden des „Deutschen Richterbundes“ von 1922-1929, Max Reichert. Aus der Ehe gingen drei Kinder hervor. Neben seiner Tätigkeit als Rechtsanwalt trat der Stuttgarter in zahlreichen literarischen Publikationen und Beiträgen in renommierten Verlagen und überregional bekannten Zeitungen und Zeitschriften in Erscheinung und gehörte dem „Reichsverband Deutscher Schriftsteller“ an. Hans Elsas war evangelisch getauft, galt aber aufgrund seiner jüdischen Wurzeln in den Kategorien der Nationalsozialisten als „Nichtarier“.
Mit der Einführung des BBG hatte sich Elsas im April 1933 gegenüber Hermann Cuhorst zu vertreten und seine Lage zu schildern. Cuhorst trat schon zu Beginn der dreißiger Jahre als überzeugter Nationalsozialist in Erscheinung, kam mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten im März 1933 in die Personalabteilung des Justizministeriums und machte in den folgenden Jahren eine nahezu beispiellose Karriere in der württembergischen Justiz. Bekanntheit weit über die regionalen Grenzen hinaus erhielt er in seiner Funktion als Sondergerichtsvorsitzender ab 1937 in Stuttgart, bei dem er zahlreiche Todesurteile zu verantworten hatte. Vor der Entlassung im Jahre 1933 auf der Grundlage des sogenannten „Arierparagraphen“, das im BBG und im Rechtsanwaltsgesetz festgeschrieben wurde, war Elsas durch eine Ausnahmeregelung geschützt: Als Freiwilliger hatte er sich von 1914-1917 im Kriegsdienst verdient gemacht und wies mit zahlreichen Zeugnissen darauf hin – ehemalige „nichtarische“ Kriegsteilnehmer, die auf Seiten des Deutschen Reiches bzw. seiner Verbündeten an der Front kämpften, wurden in einer Sonderbestimmung vom Ausscheiden aus dem Staatsdient bzw. dem Entzug ihrer Zulassung als Rechtsanwalt 1933 vorerst verschont.

Entzug von Elsas‘ Zulassung zur Rechtsanwaltschaft am 29.5.1933, HSTAS EA4-150 Bü322

Doch Elsas stand im Visier von Hermann Cuhorst und dessen Vorgesetzten im Personalreferat des Württembergischen Justizministeriums, Adolf Trukenmüller, der ebenfalls als politischer Gewährsmann im März 1933 ins Ministerium beordert wurde: Obwohl die Württembergische Politische Polizei Ende Mai 1933 auf Nachfrage des Justizministeriums bestätigte, dass über eine „politische Betätigung“ Elsas` nichts bekannt sei und „keine Bedenken gegen seine politische Zuverlässigkeit“ bestünden, wurde ihm kurz darauf am 29. Mai die „endgiltig[e] [Sic] Entscheidung mitgeteilt, dass seine Rechtsanwaltszulassung mit Wirkung zum 1. September 1933 aufgrund des §3 des Rechtsanwaltsgesetzes zurückgenommen werden sollte. Darin hieß es, dass „Personen, die sich im kommunistischen Sinne betätigt haben“, von der Zulassung zur Rechtsanwaltschaft ausgeschlossen werden sollten. Wie aus den zahlreichen Unterlagen, die Elsas und seine Anwaltskollegen, mit denen er sich eine Kanzlei teilte, zur Anfechtung von Elsas` Berufsverbot vorlegten, hervorgeht, wurden dem Stuttgarter nicht nur kommunistische Betätigungen vorgeworfen, sondern auch eine staatsfeindliche Haltung in Wirtschaftsprozessen zur Last gelegt. Im Konkreten ging es bei den Vorwürfen der kommunistischen Betätigung darum, dass Elsas 1931 ein Mandat von der gegen den Abtreibungsparagraphen engagierten Ärztin Else Kienle übernommen hatte. Zusammen mit ihrem Kollegen Friedrich Wolf wurde Kienle in einem reichsweit mit großer Aufmerksamkeit verfolgten Prozess, der später Inspiration für so manches Theaterstück sein sollte und große Unterstützerinitiativen hervorbrachte, die gewerbsmäßige Abtreibung in vielen Fällen vorgeworfen. Wolf war Jude und wurde auf Kaution freigelassen, die die KPD zahlte. Kienle wurde erst nach mehrwöchiger Haft und einem Hungerstreik – dessen Initiative wiederum Elsas von den Nationalsozialisten zur Last gelegt wurde – aus der Haft entlassen. Der Prozess verlief im Sande. Im März 2016 wurde im Gedenken an die Leistungen der Ärztin die Treppenverbindung zwischen Werastraße 136 und Landhausstraße 84 in Stuttgart als „Else-Kienle-Staffel“ eingeweiht.
Die Mandatsübernahme und ein vermeintliches Agieren in diesem Prozess, der keine „politischen Vergehen“ im Sinne des BBG bzw. Rechtsanwaltsgesetzes beinhaltete,  reichte für die Nationalsozialisten aus, um gegen Elsas vorzugehen. Die zahlreichen und langen Schreiben von Elsas und seinen Unterstützern aus dem Sommer 1933, denen auch sein Schwiegervater angehörte, würden in ausführlicher Besprechung den Rahmen dieses Beitrages sprengen: Sie dokumentieren diesen Fall nicht nur außerordentlich detailliert, sondern spiegeln auch den unerschöpflichen Einspruch Elsas` gegen ein System, dass sich zunehmend anschickte, jedwede rechtstaatlichen Prinzipien außer Kraft zu setzen. So zeigt sich, dass die Anschuldigungen gegen Elsas, die offenbar nur in knappen mündlichen Besprechungen zwischen seinen Anwälten und Trukenmüller bzw. Cuhorst artikuliert wurden, wohl sehr oberflächlich und wenig konkret an gesetzlichen Grundlagen orientiert waren, schriftliche Erläuterungen bzw. Stellungnahmen aus den Reihen des Ministeriums waren – abgesehen von Bescheiden u.ä. – nicht zu finden. Auch antwortete das Ministerium nicht auf die seitenlangen Argumentationen von Elsas und seinen Kollegen, die bemerkenswert akribisch die gesetzlichen Lücken des BBGs bzw. Anwaltsgesetzes offenlegten, Unklarheiten in Auslegungsfragen thematisierten, Formulierungen der Gesetze im Hinblick auf die Praktikabilität und Nachvollziehbarkeit in ihrer Durchsetzung kritisierten und die Vorwürfe gegen Elsas in energischem Duktus anhand der Rechtslage in Frage stellten. Obwohl, wie es Elsas und seine Unterstützer richtig bemerkten, Elsas` (angebliches) Verhalten in Wirtschaftsprozessen für seine Rechtsanwaltszulassung auch nach den restriktiven Gesetzen der Nationalsozialisten nach geltender Rechtslage keine Rolle hätte spielen dürfen, wurde ihm dies zur Last gelegt und diente offen als Argument, Elsas aus dem Dienst zu drängen. Und obwohl Elsas im Jahr 1933 durch eine Ausnahmeregelung formal vor dem Verlust seiner beruflichen Existenz geschützt war, sollte er nach Maßgabe der tonangebenden Nationalsozialisten im Personalreferat des Justizministeriums seine Anwaltszulassung verlieren und aus dem Justizdienst verbannt werden.

Es war ein Glaube an althergebrachten Prinzipien rechtstaatlicher Ordnung, die sich im Vorgehen von Elsas und seinen Kollegen ausdrückte. Anschuldigungen galt es auf gesetzlichen Grundlagen zu erörtern, Vorwürfen mit Beweisführungen zu begegnen und sich nach Normen und Regeln auseinanderzusetzen, die Anklage und Verteidigung respektierten. Die Nationalsozialisten jedoch fuhren einen anderen Kurs, erklärten Elsas zum Gegner des Regimes und machten eigene „Regeln“ geltend. Dies registrierten auch Elsas und seine Mitstreiter, die auch immer wieder auch auf Argumente zurückgegriffen, die auf Elsas` politisch und charakterlich einwandfreie Persönlichkeit abhoben – dieses Rekurrieren auf persönliche Merkmale glich schon eher dem Stil, den die Nationalsozialisten bevorzugten.
Es bleibt noch aufzuklären warum, aber Elsas erhielt seine Zulassung im August 1933 zurück, sodass er wohl bis zu seiner Auswanderung nach Brasilien im Oktober 1936 noch als Anwalt tätig sein konnte. Wahrscheinlich hat seine unerschütterliche Beweisführung Beachtung gefunden, die auch Verordnungen einbezog und nachdrücklich und energisch eine Nachprüfung des Falles verlangte – seiner Ausgrenzung durch das NS-Regime brachte dies jedoch nur zeitlichen Aufschub. 1936 floh Elsas aus Deutschland und musste in Südamerika als mittelloser Auswanderer eine neue Karriere starten: Er war zunächst als Lehrer für Sprachen tätig und wurde 1958 Professor für griechische Sprache und Literatur, 1959 übernahm er das Direktorat der Goethegesellschaft und Präsidentenamt der Goethe-Akademie in Sao Paolo.

Quelle: Hauptstaatsarchiv Stuttgart EA4-150 Bü322

Ein ungeschriebener Persilschein: Warum der demokratische Politiker und Psychologieprofessor Willy Hellpach dem badischen NS-Kultusminister Paul Schmitthenner eine Absage erteilte

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Willy Helpach (GLA N Hellpach 445) | Klicken zum Vergrößern

Wie anderen Projektmitarbeiterinnen und Projektmitarbeitern verursacht auch dem Verfasser dieser Zeilen die regelmäßige Lektüre von Spruchkammerakten inzwischen mitunter Verdruss. Einerseits sind sie unverzichtbare Quellen, um Daten und andere Informationen zu politischen Biographien zu erschließen; andererseits erweisen sich die vom Volksmund rasch zu „Persilscheinen“ deklarierten Leumundszeugnisse zugunsten Betroffener, die erhebliche Teile der Spruchkammerakten ausmachen, als nicht selten ganz unbrauchbare, in jedem Fall aber höchst problematische Dokumente, aus denen sich nur mit Mühen unter den vielfach floskelhaft apologetischen Aussagen einzelne verifizierbare Sachverhalte herausarbeiten lassen. Mehr als über die Zeit des „Dritten Reiches“, möchte man fast sagen, verraten die Spruchkammerakten über die Nachkriegsgesellschaft – im Allgemeinen über die Schlussstrichmentalität, die sich rasch ausbildete, und im Besonderen über die Netzwerke, die die einzelnen Betroffenen aufbauten, um ihrer politischen Rehabilitierung und damit verbunden auch ihrer materiellen Reintegration den Weg zu bereiten.

Unter diesen Prämissen lässt sich auch die Spruchkammerakte des Historikers Paul Schmitthenner lesen, der seit 1933 der badischen Regierung als rechtskonservativer Alibikandidat in der Funktion eines ressortlosen Staatsministers angehört und 1940, längst zum Nationalsozialisten gewandelt, die kommissarische Leitung des Kultusministeriums übernommen hatte. Ein besonderes Kennzeichen von Schmitthenners Spruchkammerverfahren war sein schleppender Gang: Nach zweijähriger Internierungshaft und anschließender Erkrankung Schmitthenners wurde das Verfahren vor der Zentralspruchkammer Karlsruhe erst am Jahresende 1949 eröffnet. Anderthalb Jahre später erfolgte die Einstellung; Schmitthenner konnte sich unter Verweis auf seine Krankheit so lange einer mündlichen Verhandlung entziehen, bis er von den Gesetzesänderungen zur Abwickelung der Entnazifizierung profitierte, die zuletzt nur noch die Durchführung von Spruchkammerverfahren gegen mutmaßliche Hauptschuldige und Belastete vorsah, zu denen die Karlsruher Kammer ihn nicht zählen wollte.

Mit Persilscheinen hatte sich Schmitthenner bereits aus seiner Internierungshaft heraus zu versorgen begonnen, und er konnte zum Schluss eine Gruppe durchaus prominenter Entlastungszeugen zusammenstellen. Für seine Karlsruher Ministertätigkeit waren dies nach dem Krähe-Augen-Prinzip unter anderem der ehemalige nationalsozialistische Ministerpräsident Walter Köhler, der frühere Ministerialdirektor im badischen Innenministerium Friedrich Karl Müller-Trefzer sowie Michel Fuhs, der unter Schmitthenner die Hochschulabteilung im Kultusministerium geleitet hatte. Als Zeugen für seine Amtsführung als Rektor der Universität Heidelberg (1938-1945) konnte Schmitthenner Eugen Fehrle – einen problematischen Kandidaten, da dieser wie er selbst zu den nach 1933 politisch avancierten Professoren gehörte – mobilisieren, aber auch den Philosophen Karl Jaspers, der Schmitthenners Interventionen zugunsten seiner als „nicht arisch“ abgestempelten Ehefrau honorierte. Prominenten Beistand erhielt Schmitthenner auch durch den (süd)badischen Staatspräsidenten Leo Wohleb, der ihn zum Gegner des Reichsstatthalters und Gauleiters Robert Wagner erklärte, obwohl er ihn persönlich erst am Jahresende 1944 kennengelernt hatte.

Welche Mühen es Schmitthenner gekostet hat, dieses Konvolut von Persilscheinen zusammenzustellen, und wie viele Absagen er bei seinem mutmaßlichen Bemühen um dessen Vergrößerung erhalten hat, ist nicht bekannt. Dass es zumindest in einem Fall eine solche Absage gegeben hat, belegt ein Zufallsfund bei der Durchsicht des Nachlasses Willy Hellpachs, eines demokratischen Politikers, der von 1921 bis 1925 als Amtsvorgänger Schmitthenners das badische Kultusministerium geleitet hatte, 1925 als Kandidat bei der Reichspräsidentenwahl gegen Paul von Hindenburg angetreten war und Schmitthenner während seiner Tätigkeit als Psychologieprofessor an der Universität Heidelberg kennengelernt hatte. Hellpach erreichte die Bitte Schmitthenners um Erstellung eines Leumundszeugnisses für sein Spruchkammerverfahren offenkundig im Frühjahr 1948. Nach einigem Zögern, das Hellpach mit einer ernsten Erkrankung seiner Frau begründete, antwortete er ihm mit einem Brief vom 5. Juni, in dem er das Ansinnen zurückwies: Was er „zu schreiben vermöchte, würde Ihnen nichts nützen, sondern eher bei den urteilenden Instanzen den Eindruck einer Gefälligkeitsbekundung machen; und reichliche Erfahrung zeigt mir, daß dies schädlicher ist, als gar nichts“.

Paul Schmitthenner (UAHD BA Pos I 01267) | Klicken zum Vergrößern

Um zu begründen, warum er zu mehr als einer phrasenhaften Gefälligkeitserklärung nicht in der Lage wäre, holte Hellpach in dem Brief etwas weiter aus und würdigte zunächst Schmitthenners politische Karriere vor 1933 als Landtagsabgeordneter der Deutschnationalen Volkspartei. Er habe ihn damals zu den „stärksten politischen Hoffnungen gezählt“ und sich von ihm maßgebliche Beiträge zu einer Umwandlung der deutschnationalen Bewegung zu einer „wahrhaft und im modernen Stile konservativen Partei“, die „unserer jungen Republik bitter Not tat“, versprochen. Auch seinen Eintritt in die badische Regierung im Jahr 1933 habe er Schmitthenner noch nachsehen können: „Sogar daß sie schließlich der Partei [der NSDAP] beitraten, machte mich darin anfangs nicht irre, da ich es als eine widerwillige, wenn auch bedauerliche Konzession taktischer Art auslegte. Später aber, gerade als sie das Rektorat antraten und Unterrichtsminister wurden, ist mir ihre betont propagandistische rednerische Haltung zur ‚Bewegung‘ immer unbegreiflicher geworden“. Hellpach konzedierte, dass Schmitthenner gute Absichten gehabt und „hinter den Kulissen mancherlei gewirkt“ haben möge, „was wir nicht wußten und was wir ihnen darum auch nicht bezeugen können; aber alles das haben Sie doch immer wieder überschattet mit Ihren rednerischen Kundgebungen, welche immer einseitiger die Überhitztheit des Konvertitentums atmeten und darum auf uns vielfach so fatal wirkten“. Als sei dies noch nicht deutlich genug, legte Hellpach nach: „Auch Ihr Uniformtausch, ihr Aufstieg in der neuen Truppengattung [der SS], Ihr offensichtliches Streben nach immer höheren Machtpositionen wirkte in der gleichen beklagenswerten Richtung. Sie ließen schließlich sogar […] die gesellschaftlichen Beziehungen zu uns der Partei nicht Genehmen fallen, was ich Ihnen nicht etwa aus gesellschaftlichem Ehrgeiz, aber aus sachlichen Gesichtspunkten heraus, sehr verübelt habe, denn stets hatte ich als einen Bestandteil aller politischen Gesittung vertreten, daß politische Gegnerschaft mit privaten Beziehungen nicht verquickt werden dürfe“.

Hellpach wiederholte den Vorwurf des NS-Konvertitentums mit dem persönlichen Hinweis, dass er es 1943 nicht gewagt haben würde, „nochmals in irgendeiner Frage Ihre Beratung zu erbitten, so radikal empfand ich Ihre Haltung in entscheidenden Ansichten gegen damals gewandelt“, bevor er am Schluss des Briefes einen versöhnlichen Ton anschlug und sein Bedauern über Schmitthenners aktuelle Situation aussprach: „Sie haben seither Schweres erduldet und nach allem menschlichen Ermessen für das, was man Ihnen zur Last legen könnte, überreichlich gebüßt. Ihnen mehr zu ersparen, würde mir (wie in zahlreichen Fällen) ein aufrichtiges Anliegen sein, aber mir fehlt die Handhabe dazu“. Auch werde er die „sehr freundlichen Erinnerungen“, die er an ihn „vor 1933“ habe, „durch alles, was dann dazwischentrat, niemals trüben lassen“. Hellpachs mit freundlichen Worten schließende, aber sachlich in schonungsloser Weise begründete Weigerung, Schmitthenner mit einem Persilschein zu versorgen, dürfte für den Verlauf seines Spruchkammerverfahrens unerheblich gewesen sein. Dass sie sich in Hellpachs Nachlass erhalten hat, ist aber ein glücklicher Umstand, da sie das Bild vom politischen Wirken Schmitthenners um einige Nuancen erhellt, die in seiner Spruchkammerakte nicht zu erkennen sind.

Quelle: GLA N Hellpach 445

Die Allgemeine Beamtenuniform des Ministerialdirektors Friedrich Karl Müller-Trefzer. Oder: Was leitende Beamte ohne Parteiuniform trugen

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Friedrich Karl Müller-Trefzer in blauer Beamtenuniform, 1944 (Foto: Privatbesitz) | Klicken zum Vergrößern

Für die Repräsentation des nationalsozialistischen Staates gegenüber der eigenen Bevölkerung, den Menschen in den besetzten Gebieten und dem Ausland spielten Uniformen eine wichtige Rolle. Schon vor der Machtergreifung 1933 hatten insbesondere die Braunhemden der SA eine große Bedeutung für Auftreten und Selbstverständnis der Nationalsozialisten gehabt. Trotzdem bilden Uniformen in der geschichtswissenschaftlichen Forschung zum Nationalsozialismus ein nur selten bearbeitetes Forschungsfeld. Daher ist es nicht immer leicht, die auf Fotografien getragenen Uniformen eindeutig zuzuordnen. Dies gilt insbesondere für jene Uniformen, die nur von einem eher kleinen Personenkreis getragen wurden. Ein Beispiel für eine solche Uniform findet sich auf einer Fotografie, die den bereits an anderer Stelle vorgestellten Ministerialdirektor Friedrich Karl Müller-Trefzer zeigt, der ab 1933 im badischen Staatsministerium unter Ministerpräsident Walter Köhler als Leiter der Staatskanzlei tätig war.

Im Rahmen der Vorbereitungen zur Publikation seiner Nachkriegserinnerungen wurde auch nach passenden Fotografien gesucht. Eine auf der Rückseite auf 1944 datierte Schwarzweiß-Fotografie, die von Müller-Trefzers Nachfahren für das Projekt zur Verfügung gestellt wurde, zeigt ihn in einer dunkelblauen Uniform. Anders als auf den meisten anderen Fotografien, die Beamte und Politiker aus den badischen Ministerien in Uniform zeigen, handelt es sich um keine Uniform der SA, SS oder einer anderen nationalsozialistischen Parteiorganisation. Stattdessen trägt er die sogenannte Allgemeine Beamtenuniform, die reichsweit einheitlich gestaltet war. Die Einführung dieser Uniform Ende der 1930er Jahre war Teil der Bestrebungen der Nationalsozialisten, zum einen durch die Uniformierung verschiedenster gesellschaftlicher Bereiche ihren totalitären Herrschaftsanspruch geltend zu machen und zum anderen die bis dato recht bunte, historisch gewachsene Uniformenlandschaft in den Ländern zu vereinheitlichen.

Einem Rundschreiben des Reichsinnenministeriums vom 1. August 1938 zufolge hatte Hitler beschlossen, die Uniform nach dem Vorbild der zuvor geschaffenen Diplomatenuniform gestalten zu lassen. Über die genauen Details und die Farbe der Bekleidung wollte er dem Schreiben nach zu einem späteren Zeitpunkt persönlich entscheiden. Die Beamtenuniform war vor allem für öffentliche Auftritte jener Beamter vorgesehen, die über keine Uniform einer Parteiorganisation verfügten. Beamte, die bereits die Uniform einer Organisation der NSDAP hatten, wurden daher im Erlass Hitlers vom 30. März 1939 von der Verpflichtung, die neue Beamtenuniform bei öffentlichen Veranstaltungen  zu tragen, ausgenommen. Diese Ausnahme folgte der damals betriebenen Politik, das Tragen der Uniformen von Parteiorganisationen durch Beamte zu fördern und spiegelte damit das Ideal einer möglichst engen Verzahnung von Staat und nationalsozialistischer Bewegung wider. In Baden war es den Bediensteten des badischen Staates bereits kurz nach der Machtübernahme gestattet worden, ihren Dienst in den Uniformen der NSDAP oder ihr nahestehender Organisationen zu verrichten (siehe Bild).

Abschrift eines Erlasses des Beauftragten des Reichs vom 24. März 1933 (GLA Karlsruhe 233/24044) | Klicken zum Vergrößern

Ein Jahr nach Hitlers Erlass wurde am 12. März 1940 die Uniformvorschrift zur Beamtenuniform im Reichsgesetzblatt veröffentlicht. Auf Landesebene war es gemäß Anlage A dieser Vorschrift nur den Staatssekretären, Ministerialdirektoren und den Leitern geschlossener Unterabteilungen gestattet, die  blaue Beamtenuniform zu tragen. Die Anzahl an Personen mit dieser Uniform in Baden war also durchaus begrenzt, zumal es die Funktion des Staatssekretärs hier  nicht gab. Zudem war es, wie erwähnt, Beamten erlaubt, anstelle ihrer dienstlichen Uniform Uniformen von nationalsozialistischen Organisationen zu tragen.

Da die Beschaffung einer Uniform durchaus eine kostspielige Angelegenheit war, gewährte man den Trägern der Beamtenuniform eine Anschaffungsbeihilfe in Höhe von bis zu 750 Reichsmark.Später folgte noch eine zusätzliche Beihilfe für die Instandhaltung über 60 Reichsmark jährlich. In den besetzten Gebieten wurde der doppelte Satz von 120 Reichsmark ausbezahlt.

In welchem Umfang der tägliche Dienst in den badischen Ministerien uniformiert verrichtet wurde, lässt sich heute kaum mehr mit Sicherheit sagen. In den Akten finden sich allerdings Belege, dass zu zahlreichen Veranstaltungen das Tragen von Uniformen angeordnet wurde. Die Beamtenuniform konnte dazu dem Anlass entsprechend angepasst werden. Für besondere Veranstaltungen konnte die Uniform mit Feldbinde, Achselstücken, vergrößerten Versionen der Orden und einer Hose mit seitlichen Streifen anstelle der normalen Tuch- oder Stiefelhose optisch aufgewertet werden. Anfang 1942 fürchteten die Verantwortlichen jedoch, dass das öffentliche Tragen dieser Galauniform vor dem Hintergrund der kriegsbedingten Einschränkungen Unmut in der zur Kleiderversorgung auf Bezugsscheine angewiesenen Bevölkerung wecken könnte. Daher wurde deren Nutzung auf jene Anlässe beschränkt, bei denen ausländische Würdenträger anwesend waren.

Muster der Beamtenuniform (aus: RGBl Nr. 42, 12. März 1940) | Klicken zum Vergrößern

Angesichts der Bedeutung von Uniformen im „Dritten Reich“ verwundert es auch nicht, dass ihr Tragen auch als Entlastungsargument in den Spruchkammerverfahren zur Entnazifizierung auftauchte. In zahlreichen Schreiben bescheinigten Kollegen, Nachbarn oder Bekannte den Ministerialbeamten, diese nie in nationalsozialistischen Uniformen gesehen zu haben. Dabei wurde versucht, das Nichttragen einer Uniform als Ausdruck einer innerlichen Ablehnung des Nationalsozialismus darzustellen, um so eine günstigere Einstufung zu erhalten und Strafmaßnahmen wie Entlassung, Zurückstufung oder Geldstrafe möglichst zu entgehen.

Auch die Orden, die Müller-Trefzer auf dem Bild trägt, sind von Interesse. Unter anderem können sie helfen, die Datierung des Fotos zu bestätigen. Das auffällige Kreuz an seiner Brust ist hier besonders aufschlussreich. Es handelt sich um das 1939 eingeführte Kriegsverdienstkreuz erster Klasse. Im Unterschied zur zweiten Klasse trugen die Träger der ersten Klasse zusätzlich zur Ordenspange auch das Kreuz auf der Brust. Die erste Klasse des Kriegsverdienstkreuzes war Müller-Trefzer erst im September 1943 verliehen worden – für einen Beamten seines Ranges recht spät. Diese späte Verleihung traf ihn offenbar so sehr, dass er sich sogar in seinen Memoiren aus den 1950er Jahren noch darüber beklagte. Mithilfe dieser Auszeichnung lässt sich die Entstehung des Fotos recht sicher auf nach 1943 eingrenzen, womit auch die rückseitige Datierung auf 1944 authentisch erscheint.

 

Quellen und Literatur:

GLA 233/24044
GLA 233/24045
Erlass des Führers und Reichskanzlers über die Einführung einer Beamtenuniform vom 30. März 1939, Reichsgesetzblatt Nr. 72 vom 17. April 1939.
Uniformvorschrift des Reichsministers des Innern zum Erlass des Führers und Reichskanzlers über die Einführung einer Beamtenuniform vom 8. März 1940, Reichsgesetzblatt Nr. 42 vom 12. März 1940.
Müller-Trefzer, Friedrich Karl: Erinnerungen aus meinem Leben (1879–1949). Ein badischer Ministerialbeamter in Kaiserreich, Republik und Diktatur, bearb. von Frank Engehausen und Katrin Hammerstein (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe A, Bd. 60), Stuttgart 2017.

„Ich hoffe, dass sie Ihnen noch nützlich sein kann“ – Wie der Justizminister Josef Beyerle nach 1945 für seine ehemaligen Kollegen eintrat

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Josef Beyerle, Aufnahme vermutl. um 1960, HSTAS Q1/1 Bü 51

Ein besonders spannender Fall in der württembergischen Justizgeschichte ist die Person Josef Beyerle (1881-1963). Beyerle, Zentrumspolitiker, in der Weimarer Zeit enger Vertrauter von Eugen Bolz und nach 1945 Mitbegründer der württembergischen CDU, war zwischen 1923 und 1933 Justizminister Württembergs und wurde unmittelbar nach Kriegsende abermals von den Alliierten mit der Leitung des Justizressorts im neu gegründeten Land Württemberg-Baden betraut (1945-1951). Diese Konstellation einer zweimaligen Ressortführung vor 1933 und nach 1945 ist eine Besonderheit und hat für die Erforschung des Justizministeriums eine große Bedeutung. Im März 1933 wurde Beyerle von den Nationalsozialisten in den „Wartestand“ versetzt und erhielt – auf eigenes Ansuchen – ab Januar 1934 einen Richterposten im Zivilsenat am Landgericht Stuttgart. Über Beyerles Handeln als Richter in dieser Zeit existieren zwar kaum Quellen – er scheint in keiner Beziehung aufgefallen zu sein: Seine Vorgesetzten schätzten ihn fachlich, aber auch in der politischen Haltung zum „neuen Staat“ durchweg positiv ein. Es ist jedoch davon auszugehen, dass der ehemalige Justizminister des Landes der NSDAP kritisch gegenüber stand, wie Schriften und Redebeiträge aus den Jahren vor 1933 zeigen. Auch standen er und seine Familie unter scharfer Beobachtung der Nationalsozialisten, wie eine Wohnungsdurchsuchung durch die Gestapo im Jahr 1937 verdeutlicht.
Die Wahrnehmung des Handelns und Wirkens der Person Beyerle in der Zeit des NS-Regimes wurde nach 1945 maßgeblich durch seine Zeitgenossen der württembergischen und bundesdeutschen Politik geprägt: In seiner Charakterfestigkeit und besonders besonnenen und zurückhaltenden Persönlichkeit sah man in dem bekennenden Katholiken einen Oppositionspolitiker ersten Ranges, metaphorisch umschrieben von Reinhold Maier als „gutes Gewissen des Landes“. Man meinte in Beyerle gar den „Gerechtesten unter den Gerechten“ zu erkennen. Diese ins kollektive Gedächtnis eingegangene Glorifizierung der Person Beyerle mag sicherlich mit den außer Zweifel stehenden Verdiensten im zweimaligen Aufbau der Landesjustiz sowie mit seiner Federführung in der Parteiarbeit zusammenhängen und dort seine Berechtigung finden.

Von Beyerle ausgestellter „Persilschein“ für Robert Roth, HSTAS EA4/150 Bü 959

Bei der Erforschung der Personalpolitik des Württembergischen Justizministeriums zeigt sich die Person Beyerle als Akteur besonders nach 1945 aber aus einer anderen Perspektive: Die in der Überschrift zitierte Zeile entstammt einer Antwort Beyerles an Robert Roth, der den Justizminister um einen „Persilschein“ im Zuge seines Spruchkammerverfahrens ersuchte – als ehemaliger Ministerialdirektor in exponierter Stellung unmittelbar hinter den NS-Ministern Christian Mergenthaler und Jonathan Schmid galt Roth in alliierter Perspektive als „Hauptschuldiger“. Roth war seit 1923 im Justizressort und stieg dort unter Beyerle bis zum Ministerialrat auf.  Zwischen 1933-1935 trat er im Ministerium unter anderem im Kontext der „Justizverreichlichung“ hervor. Mit der abgeschlossenen Justizüberleitung Ende März 1935 ging Roth in den vorzeitigen Ruhestand und lehnte eine Beförderung zum Oberlandesgerichtspräsidenten ab, wie dies nicht nur durch die Spruchkammerakten ersichtlich wird, sondern sich auch in internen Akten aus dem Justizministerium darstellt. Beyerle unterstützte seinen ehemaligen Weggefährten Roth, der in seinen Augen trotz seines NSDAP-Beitritts als „Märzgefallener“ im Jahr 1933 zweifellos ein befähigter Fachbeamter und keinesfalls lediglich ein Nutznießer der nationalsozialistischen Machtübernahme war, „natürlich gerne“ und stellte ein Schreiben aus: Der Ministerialrat wäre seinerzeit ein Beamter von „ausgezeichneter Befähigung und Erfahrung“ gewesen, seine Dienste – auch über 1933 hinaus – habe Beyerle „aufs wärmste begrüsst“, habe er darin doch einen „Schutz der Rechtspflege gegen die vom Nationalsozialismus drohenden Gefahren“ erkannt. Schließlich hätte Roth unter den „Schwierigkeiten zu leiden [gehabt], die aus der Gegensätzlichkeit seiner inneren Einstellung und der Bestrebung der nationalsozialistischen Rechtspolitik erwuchsen“. Beyerle hatte lange mit Robert Roth zusammengearbeitet und schätzte dessen fachliche Fähigkeiten – aber Roth war eben auch einer der vielen Beamten aus der Justizverwaltung, die ihre Expertise in den Dienst der Nationalsozialisten stellten und damit zur Umsetzung nationalsozialistischer Prinzipien bis in die lokale Justizpraxis beitrugen, und teils auch aktiv den Zielen des „Dritten Reiches“ zuarbeiteten. Zeitgenössisch jedoch spielten solche Argumente keine Rolle. Die Spruchkammer stufte Roth schließlich 1947 als „Mitläufer“ ein.

Es ließen sich weit mehr Beispiele für Josef Beyerles Fürsprachen ehemaliger Justizbeamter hier aufführen: Zahlreiche seiner ehemaligen Untergebenen im Ministerium, später im NS-Regime teils wiederum Vorgesetzte, wie beispielsweise Otto Küstner, der lange Zeit im Justizministerium tätig war, ab 1935 zum Oberlandesgerichtspräsidenten befördert wurde und damit neben dem Generalstaatsanwalt das höchste Amt als Vertreter der Reichsjustiz in Württemberg innehatte, traten im Zuge ihrer Spruchkammerverfahren, aber auch mit Ansuchen um Befürwortungen bei Wiedereinstellungsverfahren bzw. Ruhegehaltsverhandlungen an Beyerle heran und baten um Unterstützung. In so gut wie allen Fällen war der Justizminister in irgendeiner Form der Hilfestellung bereit, für die Bittsteller überaus günstige Worte zu finden, die durchaus Auswirkungen auf die Spruchkammerentscheidungen haben sollten.

Kondolenzschreiben Konrad Adenauers zum Tod von Josef Beyerle 1963, HSTAS Q1/1 Bü 33

Die Frage, was Beyerle zu dieser auffälligen Praxis der Fürsprache für seine ehemaligen Kollegen bewegte, wird je nach individuellem Fall unterschiedlich zu beantworten sein und seine Motivationen lassen sich anhand der Akten nicht erschließen. Die besondere Konstellation seiner zweimaligen Ministerzeit dürfte aber damit zusammenhängen: Es waren häufig Kollegen, die er ins Ministerium geholt hatte und aus langjähriger Zusammenarbeit kannte, für die er nach 1945 gutachtete. Vielleicht fühlte er sich ihnen seit dieser Zeit verbunden, wollte deshalb in dieser Form loyal Unterstützung leisten und handelte aus einem Verständnis einer Beamtensolidarität. Vielleicht sah er die fachlichen Qualitäten dieser Personen und fürchtete Verluste für die Nachkriegsjustiz. In den Neubesetzungsvorschlägen für das Landesjustizministerium 1945/1946 griff er auf zahlreiche Angestellte und BeamtInnen mit Karrieren in der Verwaltung vor 1945 zurück und argumentierte im Zweifelsfall gegenüber der US-amerikanischen Militärregierung zumeist mit deren fachlichen Expertise, die für eine funktionierende Justiz unverzichtbar sei. Hinzu kam vermutlich nicht selten eine freundschaftliche Beziehung. Vielleicht war auch sein katholisches Werteverständnis eine grundlegende Bewertungskategorie: Offenbar hegte er jedenfalls keinen Groll gegen die ehemaligen Weggefährten, von denen so mancher ihn zwischen 1933 und 1945  überflügelt hatte. Alternativ hätte Beyerle nach 1945 „ungünstige“ Bewertungen ausstellen können oder zumindest auf die Bittsteller nicht reagieren müssen. In seinem Handeln verantwortete er schließlich eine Atmosphäre der Amnestie mit, die sich an vielen Stellen in der noch jungen Bundesrepublik zeigte und für viele NS-belastete Justizbeamte frühzeitig den Weg zurück in den Verwaltungsdienst ebnen sollte.

Quellen: Hauptstaatsarchiv Stuttgart EA4-150 Bü 959, EA4-150 Bü 97, Q1-1 Bü 33

Eine Honigfalle im badischen Staatsministerium: Wie der Ministerialrat Karl Frech um Amt und Ruhegehalt gebracht wurde

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Als Nebenpublikation des Forschungsprojekts erscheinen in wenigen Tagen in der Quellenreihe der Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg die Lebenserinnerungen des badischen Ministerialbeamten Friedrich Karl Müller-Trefzer, der in unserem Blog schon mehrfach präsent war, zuletzt als Besitzer einer nationalsozialistischen Beamtenuniform. Seine Lebenserinnerungen sind – auch darüber wurde im Blog schon berichtet – der Selbstrechtfertigungsversuch eines „Kollaborateurs der ersten Stunde“, der sich mit seinem Eintritt in die NSDAP zum 1. Mai 1933 seine berufliche Position nicht nur erhalten konnte, sondern während der nationalsozialistischen Machtübernahme aufstieg: vom Oberregierungsrat und zweiten Mann in der Ministerialabteilung des badischen Staatsministeriums zum Ministerialrat und ersten Mann ebenda. Der Weg dorthin wurde frei, weil sein unmittelbarer Dienstvorgesetzter aus politischen Gründen entlassen wurde. Aus Müller-Trefzers Lebenserinnerungen erfährt man dazu: Ministerialrat Karl Frech, ein „gescheiter Mensch, aber kalt von Gemüt“, der ihm „auf persönlichem Gebiet immer fremd“ geblieben war, sei am 11. März 1933 beurlaubt worden, bald danach sei „wegen eines schweren kriminellen Vergehens, das später zu gerichtlicher Bestrafung führte“, die Dienstenthebung erfolgt.

Friedrich Karl Müller-Trefzer (aus: GLA 65 Nr. 11746) | Klicken zum Vergrößern

Was es mit diesem „schweren kriminellen Vergehen“ auf sich hatte, erschließt sich aus Müller-Trefzers Lebenserinnerungen nicht, sehr wohl aber aus Frechs Personalakte, die einen plastischen Eindruck davon vermittelt, mit welcher Rücksichtlosigkeit und Perfidie die neuen nationalsozialistischen Machthaber in den Landesministerien 1933 ihre Personalpolitik betrieben. Frech, 1877 geboren, Jurist im badischen Staatsdienst seit 1904, zuletzt Landgerichtsrat, Ministerialrat im Staatsministerium seit 1923, Mitglied der Zentrumspartei und Vertrauensmann des Staatspräsidenten Josef Schmitt, wurde am 11. März 1933, dem Tag der Entmachtung der bisherigen Regierung durch Reichskommissar Robert Wagner, vom Dienst beurlaubt. Seine definitive Verdrängung aus dem Staatsdienst erfolgte rasch: Am 18. April 1933, also kaum zwei Wochen nach Inkrafttreten des Gesetzes „zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“, wurde Frech nach § 4 dieses Gesetzes wegen politischer Unzuverlässigkeit in den Ruhestand versetzt. Er hatte damit Anspruch auf drei Viertel des ihm zustehenden Ruhegehalts. Da Frech 31 Dienstjahre vorweisen konnte, wurden ihm monatliche Ruhestandsbezüge von 499 Reichsmark zugesprochen.

Die neue Leitung des Staatsministeriums – Reichskommissar Wagner, Müller-Trefzer, der zunächst kommissarisch in Frechs Stellung aufgerückt war, und der NSDAP-Parteijournalist Franz Moraller, der die Pressestelle des Hauses übernommen hatte – wollten es offenkundig nicht bei der Verdrängung Frechs aus dem Amt belassen, sondern sahen auch noch die Chance, ihn durch ein Strafverfahren zu diskreditieren. Bereits am 1. April berichtete das NSDAP-Parteiblatt „Der Führer“ unter Berufung auf eine Mitteilung der Pressestelle des Staatsministeriums, dass Frech am Vortag „in Schutzhaft genommen“ worden sei. In seiner Karlsruher Wohnung habe eine „gründliche Haussuchung“ stattgefunden. Über die „Gründe dieser Festnahme können vorläufig keine näheren Angaben gemacht werden. Ministerialrat Frech gehört der Zentrumspartei an“.

Anders als der „Führer“-Bericht suggerierte, dürfte es bei der Hausdurchsuchung nicht um politisch belastendes Material gegangen sein, sondern vielmehr um Beweise oder wenigstens Indizien für homosexuelle Neigungen Frechs, auf die möglicherweise Müller-Trefzer, der Frech seit zehn Jahren im täglichen dienstlichen Umgang kannte, Wagner und Moraller aufmerksam gemacht hatte. Umgehend ermittelte die Staatsanwaltschaft gegen Frech und beantragte ein Verfahren wegen „tätlicher Beleidigung“, das am 17. Mai 1933 vor dem Karlsruher Schöffengericht gegen Frech geführt wurde. Zur Last gelegt wurde ihm, dass er einen 16-jährigen Karlsruher Schüler, der sich schon im Vorjahr an das Staatsministerium mit der Bitte um Intervention zugunsten seines in Italien inhaftierten Vaters gewandt hatte, bei zwei Begegnungen in seiner Wohnung am 15. und 22. März 1933 „mittels einer Tätlichkeit beleidigt“ habe – in einem Fall habe er den Schüler „umarmt, an sich gedrückt, dessen linkes Bein über seine Schenkel gezogen und die Hand über den Hosen“ gegen dessen Geschlechtsteil „gedrückt“; im anderen Fall habe Frech „das Gleiche getan, sodann weitergehend unter den Hosen an den blosen Beinen bis zur Mitte des Oberschenkels“ gegriffen, „den Hosenschlitz“ zu öffnen versucht, „dessen Hosenbund geöffnet und über den Hosen an den Geschlechtsteil“ des Schülers gegriffen.

Nach den Erhebungen des Karlsruher Schöffengerichts stellte sich der Fall wie folgt dar: Frech hörte von einer Sprachlehrerin, die ihm seit geraumer Zeit Italienischunterricht erteilte, von der Absicht des Schülers, seinen Vater, der 1919 von einem Mailänder Kriegsgericht zu 30 Jahren Kerkerhaft verurteilt worden war, zu Ostern 1933 in der Haft zu besuchen. Um mit ihm die Vorlage eines Gnadengesuchs an den italienischen König zu erörtern, ließ Frech den Schüler bitten, ihn im Staatsministerium aufzusuchen. Das Gespräch fand am 23. Februar in Frechs Geschäftszimmer im Beisein eines des Italienischen mächtigen Buchhalters, der bei der Formulierung des Gesuchs behilflich sein sollte, statt. Zum Abschluss wurde die Angelegenheit an diesem Tage nicht gebracht, und mit der Beurlaubung Frechs am 11. März sah der Schüler seine Hoffnung schwinden, mit dem Gesuch seinem Vater helfen zu können. Als er dies seiner Italienischlehrerin mitteilte, sprach diese Frech darauf an, der sich bereit erklärte, den Schüler weiter zu unterstützen, und ihn in seine Wohnung einlud. Bei dem Treffen am 15. März, das von 16 bis 23 Uhr dauerte, kam es dann zu den inkriminierten Vorfällen – Frech stellte in Abrede, dass es seine Absicht gewesen sei, „unsittliche Handlungen vorzunehmen“ und die „unglückliche Lage“ des Schülers auszunützen, konzedierte aber, „dass eine ‚erotische Stimmung‘ geherrscht habe und er auch glaube, dass der Zeuge ‚etwas erregt‘ gewesen sei. Das gleiche sei auch der Fall gewesen bei dem zweiten, eine Woche später am 22.3.33 stattgefundenen Zusammensein“.

Franz Moraller (aus: E. Kienast (Hg.): Der Großdeutsche Reichstag 1938, IV. Wahlperiode, Berlin 1943) | Klicken zum Vergrößern

Die Frage, warum der Schüler Frech ein zweites Mal aufgesucht habe, obwohl ihm dessen Annäherungsversuche zuwider gewesen seien, wurde vom Gericht geprüft und dahingehend gewertet, dass darin „keine Zustimmung und Einwilligung des Zeugen zu der Handlungsweise des Angeklagten erblickt werden“ könne. Vielmehr sei der Schüler nur deshalb ein zweites Mal zu Frech gegangen, „weil er eben in dem Angeklagten den Mann sah, der nach seiner Stellung und nach seiner Versicherung bereit und in der Lage war, ihm bei der Abfassung und Weiterleitung des Gnadengesuchs für seinen unglücklichen Vater zu helfen“. Selbst wenn dem Schüler das Verständnis „für das Rechtswidrige und Strafbare der Handlungsweise des Angeklagten gefehlt hätte und aus seinem Wiederkommen auf eine Einwilligung seinerseits geschlossen werden könnte, so wäre dies … rechtlich ohne Belang, da der Zeuge minderjährig ist und eine Einwilligung eines Minderjährigen zu einer Kränkung seiner Ehre ohne Bedeutung wäre“. Aus dem gleichen Grund ließ es das Gericht auch offen, „ob und inwieweit etwa die Unterredung zwischen dem Zeugen und dem Pressechef Moraller, die nach Angaben des Zeugen unmittelbar vor dem zweiten Besuch bei dem Angeklagten stattgefunden haben soll, auf den Entschluss des Zeugen von Einfluss gewesen ist, noch ein zweitesmal zu dem Angeklagten zu gehen“.

Für die juristische Bewertung des Falles mag dies irrelevant sein, für die historische Beurteilung wäre es aber doch wichtig zu wissen, ob der nationalsozialistische Neuankömmling im Staatsministerium Moraller dem beurlaubten Zentrumsanhänger Frech eine Honigfalle gestellt hatte. Auch wenn hierfür nur Indizien vorliegen, wird man mit der Annahme nicht weit fehlgehen, dass es sich um eine Intrige handelte, die Moraller und seinen Mitstreitern den gewünschten Erfolg brachte: Das Karlsruher Schöffengericht verurteilte Frech wegen „fortgesetzter mittels einer Tätlichkeit begangenen Beleidigung“ – dies war schon in der Gerichtspraxis der Vorjahre das Mittel der Wahl gewesen, um homosexuelle Handlungen zu ahnden, die unterhalb der Schwelle der nach §175 des Reichsstrafgesetzbuches relevanten Vergehen lagen – zu einer Geldstrafe von 1.000 Reichsmark. Die Summe, die etwas höher lag als das Monatsgehalt eines Ministerialrats, der Frech inzwischen nicht mehr war, mutet sehr hoch an; allerdings hatte das Gericht sogar noch mildernde Umstände geltend gemacht, nämlich dass der „Angeklagte infolge seiner Erkrankung und Körperbeschaffenheit und der dadurch bedingten Ehelosigkeit zu den von ihm zugegebenen, nach seiner Versicherung stets von ihm bekämpften Neigungen gekommen ist und dass er durch die sechswöchentliche Schutzhaft infolge seines allgemeinen Gesundheitszustandes bereits schwer gelitten hat und die strafgerichtliche Verurteilung aller Voraussicht nach bei ihm noch weitere schwere Folgen haben wird“.

Frech musste indes nicht nur unter den Folgen der strafgerichtlichen Verurteilung leiden, sondern auch noch ein Dienststrafverfahren über sich ergehen lassen. Als hätten die neuen Herren – inzwischen wurde das Staatsministerium von Ministerpräsident Walter Köhler geleitet – nicht genug mit ihrem vermeintlichen nationalen Aufbauwerk zu tun gehabt, setzten sie etliche Hebel in Gang, um die Vergangenheit des ohnehin schon kaltgestellten Zentrumsbeamten Frech zu durchleuchten. Das Ergebnis der Ermittlungen präsentierte der Staatsanwalt im Dienststrafverfahren – hierbei handelte es sich um den inzwischen ins badische Justizministerium avancierten Altparteigenossen der NSDAP Eitelhans Grüninger – Mitte September 1933: „Standesunwürdige Handlungen“ des Angeschuldigten seien in den Kontakten zu vier jungen Männern, Studenten und Lehramtspraktikanten, in den Jahren 1925 bis 1931 festgestellt worden. Einer der Fälle sei schon damals aktenkundig geworden; allerdings sei der Vorgang von dem früheren Generalstaatsanwalt „in seinem Schreibtisch in Verwahrung gehalten“ worden. Für Grüninger erfüllten alle vier Fälle ebenso wie der im Mai 1933 vor Gericht gekommene den Tatbestand der tätlichen Beleidigung. Eine strafrechtliche Verfolgung könne aber „schon wegen des Ablaufs der Strafantragsfrist … nicht mehr in Frage kommen“.

Eröffnung des Dienststrafverfahrens gegen Frech am 13. September 1933 (aus: GLA 233 29437) | Klicken zum Vergrößern

In das Meinungsbild der Dienststrafkammer für nichtrichterliche Beamte in Karlsruhe gingen die älteren Fälle jedoch mit ein. Sie wertete Frechs Verhalten als nicht vereinbar mit „seiner Stellung als Beamter im Allgemeinen und vor allem mit einer so hervorragend exponierten Stellung, wie er sie als Ministerialrat im Staatsministerium und als ständiger Begleiter des badischen Staatspräsidenten bei offiziellen Anlässen einnahm“. Die Kammer prüfte, ob als Maximalsanktion die Aberkennung des Ruhegeldes und der Hinterbliebenenversorgung in Betracht käme, machte dann aber auch mildernde Umstände aus. Diese bestünden darin, „dass der Angeklagte offensichtlich mit starker Energie gegen die aus seiner unglücklichen Veranlagung zusammenhängenden Neigungen angekämpft hat, wie vor allem daraus hervorgeht, dass er in seiner gleichgeschlechtlichen Betätigung nie über einen gewissen Grad hinausgegangen ist“. Folglich lautete das im Oktober 1933 ergangene Urteil: Aberkennung der Amtsbezeichnung und des Ruhegehaltsanspruchs „bis auf 60% des derzeitigen Ruhegehalts“.

Während sich viele Betroffene der nationalsozialistischen „Säuberungspolitik“ von 1933 in den ersten Nachkriegsjahren um ihre Rehabilitierung, die auch den finanziellen Ausgleich erlittener Schäden in ihrem Einkommen umfasste, bemühten, scheint der Fall des 1958 gestorbenen Karl Frech nicht noch einmal aufgerollt worden zu sein. Vermutlich scheute der Ministerialrat a. D., der diesen Titel nicht mehr führen durfte, erneute amtliche Erörterungen seiner sexuellen Orientierung, die sich mit der Einleitung eines Wiedergutmachungsverfahrens wohl kaum hätten vermeiden lassen können. Dass ein solches ausblieb, kam Frechs Amtsnachfolger Müller-Trefzer nach 1945 entgegen. Der Spruchkammer und seiner vorgesetzten Behörde, die über die Höhe seines Ruhegehalts zu befinden hatte, gegenüber betonte Müller-Trefzer die Rechtmäßigkeit der eigenen Beförderung im Frühjahr 1933: Diese sei ein ganz normaler Vorgang gewesen, da sein Vorgänger nicht aus politischen Gründen, sondern „wegen eines schweren kriminellen Vergehens“ aus dem Amt geschieden sei – wenn dem nicht so gewesen wäre, hätte Frech schließlich inzwischen Wiedergutmachungsansprüche geltend gemacht.

Quelle: GLA 233 29437

Badische Koalitionsverhandlungen am Vorabend des nationalsozialistischen Staatsstreichs vom 9. März 1933

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Beitrag aus der Karlsruher Zeitung am 8. März | Klicken zum Vergrößern

Über die unmittelbare Vorgeschichte der Einsetzung der zunächst provisorischen nationalsozialistischen Landesregierung in Baden am 11. März 1933 ist recht wenig bekannt. So konnten die Ereignisse bislang im Wesentlichen nur anhand der zeitgenössischen Presseberichterstattung rekonstruiert werden, auf die sich auch die einschlägige Darstellung Horst Rehbergers in seinem 1966 erschienenen Buch „Die Gleichschaltung des Landes Baden 1932/33“ stützt. Die Hauptquellen sind zwei kurze Berichte in der „Karlsruher Zeitung“: Am 8. März teilte das Blatt mit, dass am Vortag in einer Aussprache über allgemeine Fragen zwischen den Führungskräften der NSDAP und des Zentrums erste Beratungen über eine Regierungsumbildung stattgefunden hätten. Bei einer zweiten Besprechung am 8. März sei ein Vertreter der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP) hinzugezogen worden, und von „nationalsozialistischer und deutschnationaler Seite“ sei ein „positiver Vorschlag“ zu „der Zusammensetzung einer neu zu bildenden Regierung und der Besetzung der Ministerien“ gemacht worden. Der Verhandlungsführer des Zentrums habe diesen Vorschlag entgegengenommen, „ohne selbst dazu Stellung zu nehmen“. Einen Tag später, am 9. März, meldete die „Karlsruher Zeitung“, dass die Gauleitung der NSDAP den Abbruch der Koalitionsverhandlungen beschlossen habe: „Durch die neue politische Entwicklung, die in der Entsendung des Reichskommissars Robert Wagner nach Baden ihren Ausdruck findet“, seien die „seither geführten Verhandlungen über die Umbildung der badischen Regierung illusorisch geworden“.

Was im Einzelnen bei den letztlich fruchtlosen Koalitionsverhandlungen zwischen NSDAP, Zentrum und DNVP am 7. und 8. März 1933 besprochen wurde, lässt sich inzwischen anhand zweier Quellen rekonstruieren, die Rehberger für sein Buch nicht zur Verfügung standen: Es handelt sich dabei um die im Stadtarchiv Weinheim verwahrten Lebenserinnerungen des damaligen Vorsitzenden der NSDAP-Landtagsfraktion und späteren badischen Ministerpräsidenten Walter Köhler, die für unsere Projektbelange allgemein eine wichtige Quelle darstellen, und um ein undatiertes, aber offenkundig ganz zeitnah entstandenes Protokoll der Verhandlungen, das sich im Nachlass des damaligen Vorsitzenden der Landtagsfraktion des Zentrums Ernst Föhr im Erzbischöflichen Archiv in Freiburg erhalten hat – dort entdeckte es vor kurzem der Heidelberger Student Viktor Fichtenau im Zuge der Recherchen für seine Masterarbeit über die badische DNVP.

Dass die Gespräche über eine Neubildung der Regierung überhaupt stattfanden, war eine direkte Folge der Reichstagswahlen vom 5. März 1933, bei denen die Nationalsozialisten in Baden mit knapp über 45 Prozent der Wählerstimmen ein besseres Ergebnis erzielten als im Reichsdurchschnitt. Für die landespolitischen Verhältnisse hatte dies insofern indirekte, aber wichtige Auswirkungen, als damit eine große Diskrepanz zwischen der Zusammensetzung des letztmals 1929 gewählten Landtags, in dem die NSDAP nur acht von 88 Mandaten besaß, und der aktuellen politischen Stimmungslage im Lande zum Ausdruck kam. Bereits nach den beiden Reichstagswahlen des Vorjahres und auch nach der Einsetzung der Regierung Hitler am 30. Januar 1933 hatten die badischen Nationalsozialisten die Auflösung des Landtags und Neuwahlen gefordert, was von der Landesregierung, die bis zum November 1932 von Zentrum, Deutscher Volkspartei (DVP) und SPD und seitdem nur noch von den beiden erstgenannten Parteien getragen wurde, aber jeweils abgelehnt worden war. Am 6. März verschärften die Nationalsozialisten ihr Vorgehen und forderten „angesichts der politischen Situation“ den „sofortigen Rücktritt“ der Regierung „und die Bildung einer neuen Badischen Regierung unter nationalsozialistischer Führung entsprechend dem Ausgang der gestrigen Reichstagswahl“. Ein weiteres dilatorisches Verhalten meinte die Landesregierung sich nun nicht mehr leisten zu können und trat deshalb in die erwähnten Verhandlungen ein, mit denen der Staatspräsident Josef Schmitt für die Zentrumspartei Ernst Föhr beauftragte.

Walter Köhler, 1929 (GLA 231 2937 (980)) | Klicken zum Vergrößern

Über sein erstes Treffen mit Föhr, ein  Vieraugengespräch am 7. März 1933, hielt Walter Köhler in seinen Lebenserinnerungen fest, dass er „Dr. Föhr als Repräsentant der stärksten politischen Kraft im Lande gegenüber“ getreten sei, aber nicht „den wilden Mann“ gespielt habe, „was auf ihn auch bestimmt keinen Eindruck gemacht hätte“. In der Sache sei man sich nicht nähergekommen, da Köhler die verfassungsrechtlichen Bedenken der Landesregierung gegen Neuwahlen für „an den Haaren herbeigezogen“ gehalten habe. Allerdings hätten auch Neuwahlen die akuten Probleme nicht lösen können, da „angesichts der Schwäche der Regierung eine Beteiligung der stärksten Partei einfach unvermeidlich“ gewesen sei. In welcher Form diese geschehen könne, sei am nächsten Tag besprochen worden, und zwar unter Hinzuziehung des Landtagsabgeordneten Paul Schmitthenner, der die Interessen der DNVP, des Koalitionspartners der NSDAP in Berlin, vertreten sollte. Gemeinsam mit Schmitthenner habe er, so Köhler, Föhr einen konkreten Vorschlag unterbreitet, nämlich „eine Regierung zu bilden, in der NSDAP und DNVP die Mehrheit hätten und in der wir den Staatspräsidenten und zwei Minister und Zentrum und DNVP je einen Minister erhalten sollten“. Personalvorschläge seien mit Ausnahme der Frage, ob der amtierende Innenminister Erwin Umhauer (DVP) mit einem Ministerium betraut werden sollte, nicht erörtert worden. Föhr habe die Vorschläge „mit Interesse, aber ohne Begeisterung entgegen“ genommen und zugesagt, „daß er Vorstand und Fraktion seiner Partei unterrichten würde, er selbst habe keine Vollmacht“. Diese Zurückhaltung sei ihm selbst, so Köhler, willkommen gewesen, „denn auch ich befand mich in einer unangenehmen Situation. Ich hatte weder von Berlin noch von München irgendwelche Orientierung, welche Absichten im Hinblick auf die notwendige Angleichung der Länder angesichts der neuen Situation bestehen“. Um sich diese Orientierung zu verschaffen, wollte sich Köhler am nächsten Tag, dem 9. März, mit Reichsinnenminister Wilhelm Frick in Frankfurt treffen. Dieses Vorhaben wurde obsolet, als am Abend des 8. März Fricks Telegramm in Karlsruhe eintraf, mit dem er die Einsetzung Robert Wagners als Reichskommissar mitteilte, wodurch der Weg zur Ausschaltung der amtierenden Landesregierung und zu einer Regierungsneubildung nach nationalsozialistischem Belieben frei wurde.

Das von Föhr angefertigte Protokoll gibt nicht nur ausführlichere, sondern auch in Details abweichende Informationen über den Verlauf der Koalitionsverhandlungen: Das erste Gespräch habe am 7. März um 11 Uhr im Landtagsgebäude begonnen und eine Dreiviertelstunde gedauert. Köhler habe ihm dabei seine Absicht erläutert, die Regierung solle zurücktreten und die Geschäfte „unter Gewährung von massgebendem Einfluss an die Nationalsozialisten“ weiterführen; ferner sei der Landtag unmittelbar aufzulösen, und Neuwahlen sollten innerhalb von 14 Tagen stattfinden. Föhr hielt fest, dass er sich klar dagegen ausgesprochen habe – wegen verfassungsrechtlicher Bedenken gegen eine Landtagsauflösung und mit dem praktischen Hinweis, dass sich die nötigen Wahlvorbereitungen nicht binnen zweier Wochen treffen ließen. Daraufhin habe Köhler seinerseits einen Rückzieher gemacht: Wenn die Wahlen erst turnusgemäß im Herbst 1933 stattfinden sollten, „hätte seine Partei kein Interesse an der Beteiligung“ an der Regierung. Er müsse jetzt erst einmal „von der Reichsparteileitung Weisung haben, was geschehen soll“.

Ernst Föhr (GLA 231 2937 (902)) | Klicken zum Vergrößern

Nachdem man so unverrichteter Dinge auseinandergegangen sei, so Föhr, habe ihn Köhler noch am Abend des 7. März telefonisch für den nächsten Tag um ein zweites Gespräch gebeten, wiederum um 11 Uhr im Landtag, aber dieses Mal im Dabeisein Schmitthenners, da die „Deutschnationalen möglichst mit einbezogen werden“ sollten, wenn eine Koalition zustande komme. Föhrs Aufzeichnungen zufolge stand bei dem zweiten Gespräch die strittige Frage, ob der Landtag aufgelöst oder für ein halbes Jahr in unveränderter Zusammensetzung weiter tagen sollte, nicht mehr zur Debatte. Vielmehr hätten ihm Köhler und Schmitthenner sogleich einen Vorschlag zur Zusammensetzung einer neuen Regierung präsentiert: Zentrum, Nationalsozialisten und Deutschnationale sollten in ihr vertreten sein, nicht aber der bisherige kleine Koalitionspartner DVP. Bei der Kräfteverteilung innerhalb der Regierung dachten Köhler und Schmitthenner an „drei Ministerien für die Harzburger Front“ (das heißt: NSDAP und DNVP) und eines für das Zentrum. Dies habe er, so Föhr, kategorisch zurückgewiesen: Mit diesem Vorschlag würde er „noch nicht einmal vor die Parteiinstanzen“ treten.

Nach kurzer Beratung untereinander hätten Köhler und Schmitthenner, so das Protokoll weiter, einen modifizierten Vorschlag präsentiert: „zwei Ministerien für die Harzburger Front, eins für das Zentrum, das vierte durch einen Fachminister […], wofür sie Herrn Dr. Umhauer in Vorschlag brachten, weil sie ihm zu Dank verpflichtet seien“. Eine Erläuterung für diese Volte – denn der amtierende Innenminister Umhauer war im Dezember 1932 als Abgeordneter der DVP, die Köhler zuvor hatte ausgeschlossen wissen wollen, in die Regierung gelangt – gibt das Protokoll nicht. Offensichtlich sah Föhr in Umhauer keinen sicheren Kantonisten mehr, sondern einen mutmaßlichen Überläufer zur NSDAP, denn er erhob die Forderung, dass „zwischen der Harzburger Front und den übrigen Mitgliedern der Regierung“ Parität bestehen müsse, „so dass eine gegenseitige Überstimmung ausgeschlossen sei“, und dass das Zentrum deshalb zwei Ministerien erhalten müsse. Auf die Frage, welches Ministerium das Zentrum in erster Linie anstrebe, habe er das Innenministerium genannt, das Köhler allerdings für die Nationalsozialisten gefordert habe. Als letztes Zugeständnis habe Köhler dann vorgeschlagen: „Zwei Ministerien Harzburger Front, ein Ministerium Zentrum und zwar Unterrichtsministerium; viertes Ministerium Dr. Umhauer und zwar wohl Justizministerium“. Welcher der vier Minister Staatspräsident – „vielleicht Dr. Umhauer“ – werden solle, könne später geklärt werden. Föhr selbst wollte, so sein Protokoll, zu diesem Vorschlag keine Stellung nehmen, versprach aber, die Parteiinstanzen damit zu befassen. Dies sollte, obwohl Köhler ihn zu einer rascheren Entscheidung zu drängen versuchte, erst am Sonntag, den 12. März, geschehen.

Wovon Köhler in seinen Lebenserinnerungen gar nicht berichtet und was auch nicht recht zu den von Föhr festgehaltenen eigenen starken Vorbehalten gegen eine Koalitionsbildung mit der NSDAP passt: Seinem Protokoll zufolge präsentierte er Köhler und Schmitthenner am 8. März noch ein in neun Punkte gefasstes Programm, „welches etwa die Linie der zu verfolgenden Politik in Baden sein müsse“. Es umfasste Bestandsgarantien wie die „Einhaltung der Verfassung des Reiches und des Landes“, das „Festhalten an der Eigenstaatlichkeit der Länder“ oder „keinerlei Veränderung der kirchenpolitischen Gesetzgebung zu Ungunsten der Kirchen“, neben diesen defensiven Punkten aber auch wirtschaftspolitische Zielvorgaben wie die „Förderung der Landwirtschaft“, die „Erhaltung des Mittelstandes“ oder über die Bemühungen des Reiches hinausgehende Maßnahmen zur Arbeitsbeschaffung. Dies deutet darauf hin, dass Föhr das von ihm skeptisch beurteilte Koalitionsprojekt vielleicht doch nicht nur als eine Not- und Übergangslösung betrachtete. Dieses Programm, so hielt er am Schluss des Protokolls fest, habe „in allen Punkten die Zustimmung“ Köhlers und Schmitthenners gefunden – nur bezüglich der Kulturpolitik habe Köhler den Vorbehalt geäußert, dass den Nationalsozialisten die „Staatsnotwendigkeiten“ wichtiger seien, wenn diese sie „in die Unmöglichkeit versetzen, die Leistungen gegenüber den Kirchen einzuhalten“.

Bericht der Karlsruher Zeitung über den Abbruch der Verhandlungen, 9. März | Klicken zum Vergrößern

Welche Einsichten lassen sich nun aus dem detaillierten Protokoll der wegen der Einsetzung eines Reichskommissars folgenlos gebliebenen Koalitionsverhandlungen gewinnen? Zum einen wird aus den Aufzeichnungen Föhrs deutlich, dass die Führung der badischen Nationalsozialisten knapp anderthalb Monate nach der Einsetzung der Regierung Hitler noch keine klare Handlungsstrategie für eine „Machtübernahme“ in Baden besaß und dass sie auch auf den Wahlerfolg vom 5. März nur situativ reagierte. Dass Köhler im Gespräch mit Föhr im Viertelstundentakt seine Verhandlungsposition revidierte, mag eine Überzeichnung des Protokollanten sein – Köhlers Entscheidungsunfähigkeit in dieser Situation gestehen jedoch auch seine Lebenserinnerungen ein. Zum anderen wirft das Protokoll ein Schlaglicht auf die politische Orientierungslosigkeit der Zentrumspartei am Vorabend ihrer erzwungenen Entmachtung: Das maximale Verhandlungsziel, das Föhr verfolgte, nämlich als gleichberechtigter oder vielleicht sogar als tonangebender Partner in einer Koalitionsregierung maßgeblich die Geschicke der Landespolitik mit einer Perspektive von einem halben Jahr lenken zu können, lässt sich wohl kaum als Ausdruck guten politischen Augenmaßes, sondern eher als Indiz dafür werten, dass der badischen Zentrumspartei nach 14 Jahren in ununterbrochener Regierungsverantwortung diese zum Selbstzweck geworden war. Schließlich unterstreicht das Protokoll ganz allgemein die Binsenweisheit, dass den retrospektiven Aussagen von Politikern grundsätzlich misstraut werden sollte. Noch deutlicher als Köhlers die Koalitionsverhandlungen bagatellisierende Ausführungen zeigen dies die Erinnerungen der dritten an ihnen beteiligten Person: In Schmitthenners Autobiographie nämlich werden sie gar nicht erwähnt, da sie nicht in das Narrativ passen, das er sich für die Nachwelt und sich selbst zurechtgelegt hatte. Diesem zufolge sei er erst am 11. März, nachdem sich die „badische Revolution […] ohne deutschnationale Mitwirkung auf kaltem Wege und ohne Widerstand“ vollzogen habe, zur eigenen Überraschung von Reichskommissar Wagner zu Gesprächen über die Bildung einer kommissarischen Regierung gebeten worden, denen er sich aus Gründen der Parteiräson nicht habe entziehen können und die schließlich dazu geführt hätten, dass er in sie „als Deutschnationaler Staatskommissar abgeordnet“ worden sei.

Quelle: Erzbischöfliches Archiv Freiburg Na 73/1

 

weitere Quellen:

Stadtarchiv Weinheim Rep. 36/4298 (Köhler)
Landeskirchliches Archiv Karlsruhe 150/028 (Schmitthenner)


Der Ministerialrat Herbert Kraft und das französische Auto. Verwaltungspraxis in Karlsruhe und Straßburg zwischen „totalem Krieg“ und profaner Klüngelei

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Im Frühjahr 1933 ins Amt gekommen war Herbert Kraft (1886–1946) als Ministerialrat und Abteilungsleiter für Höhere Schulen im badischen Kultusministerium mit weitgehenden gestalterischen Befugnissen beim Umbau der Landesschulverwaltung nach nationalsozialistischen Vorstellungen ausgestattet. Kraft hatte vor der Machtübernahme für die NSDAP im Badischen Landtag gesessen und von dort den demokratischen Staat, von dem er als Gymnasiallehrer gleichzeitig sein Gehalt bezog, wort- und tatkräftig bekämpft. Insofern verdeutlicht sein Aufstieg, dass die nationalsozialistische Personalpolitik in der südwestdeutschen Landesbürokratie neben allen signifikanten Kontinuitäten von Beamtenkarrieren und Akten individueller Anpassungen an das neue Regime auch auf das Mittel rigoroser „Säuberungen“ zurückgriff, unliebsame Beamte verdrängte und altgediente Parteigenossen an den Schaltstellen der administrativen Macht platzierte. Folgerichtig ist von Kraft auf diesen Seiten schon an anderer Stelle die Rede gewesen.

Seit kurzem findet sich auf dem Online-Portal unter der Rubrik „Fremde Federn“ auch eine umfassende Arbeit zur politischen Biographie Herbert Krafts. Diese bietet Stoff für so manche Anekdote: So berichtet auch der folgende Beitrag von einem vordergründig amüsanten Vorgang um Kraft, dem aber als Schlaglicht auf Grundprobleme einer Verwaltungsgeschichte des Nationalsozialismus im regionalen Kontext durchaus ein Erkenntnispotential zukommt.

Herbert Kraft (GLA 231 Nr. 2937 (982)) | Klicken zum Vergrößern

Der Beginn des Krieges 1939 markierte für den einstigen Frontoffizier und inzwischen zum Hauptmann der Reserve der Luftwaffe aufgestiegenen Kraft keine tiefe Erfahrungszäsur. Dies lag vor allem an der „UK-Stellung“, der Unabkömmlichkeit an seinem Arbeitsplatz, die Kraft von seinen Dienstherren während der Dauer des Zweiten Weltkrieges immer wieder bescheinigt bekam. Auf eine andere Weise aber wirkten sich die Folgen des Krieges doch auf Krafts unmittelbare Lebensrealität aus. Als nach der Annexion des Elsass im Sommer 1940 der badische Gauleiter und Reichsstatthalter Robert Wagner zum Chef der Zivilverwaltung im Elsass (CdZ) ernannt wurde, zeichnete dies die badisch-elsässische Personalunion auf der Ebene der Landesregierung und ihrer Verwaltung vor. Unter bis zum Ende des „Dritten Reichs“ ungeklärtem staatsrechtlichen Status besorgten die badischen Behörden de facto die Verwaltungsaufgaben im Elsass. Die Ministerien wurden dem Chef der Zivilverwaltung als Abteilungen unterstellt. Für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des badischen Kultusministeriums waren die mit der neuen Situation einhergehenden Änderungen dabei besonders einschneidend, da für sie mit der Annexion nicht nur ein Machtzuwachs verbunden war, sondern die gesamte Behörde nach Straßburg umzuziehen hatte, um den Anschluss des neu gewonnen Territoriums symbolisch zu untermauern.

Kraft, nun auch Ministerialrat beim CdZ in der Abteilung Erziehung, Unterricht und Volksbildung, pendelte zunächst noch einige Zeit zwischen seinem Wohnort Karlsruhe und seiner neuen Wirkungsstätte Straßburg. Um den Jahreswechsel 1941/42 wurde er bei einer der dabei anfallenden Autofahrten auf dem Weg nach Karlsruhe kurz hinter der Rheingrenze in Rheinbischofsheim in einen Verkehrsunfall verwickelt. Im zuständigen Landratsamt Kehl wurde daraufhin eine Mitschuld Krafts festgestellt und eine Strafe von 20 RM oder vier Tagen Haft verhängt. Verkehrsdelikte, die mit Geldstrafen von mindestens 20 RM sanktioniert wurden, zogen damals einen Eintrag in den Führerschein nach sich.

Stellte die Zahlung der Geldbuße für den wohlsituierten Staatsbeamten offenbar kein größeres Problem dar, wehrte sich der im Milieu des wilhelminischen Bürgertums sozialisierte, auf Werte wie Anstand und Ehre fixierte Kraft vehement gegen den nach eigenem Befinden wohl rufschädigenden Führerscheineintrag, der ihn als Verkehrssünder gebrandmarkt hätte.

Deshalb suchte Kraft, nachdem er die Angelegenheit einige Monate lang ignoriert hatte, im Januar 1943, als Reaktion auf eine verschärfte Intervention des Karlsruher Polizeipräsidenten bei Krafts Vorgesetztem, Kultusminister Schmitthenner, Hilfe bei dessen Kabinettskollegen, dem badischen Innenminister Karl Pflaumer, den er bat, „den Herrn Polizeipräsidenten anzuweisen, von einem Eintrag in meinen Führerschein abzusehen“.

Im gleichen Schreiben schilderte Kraft den etwa ein Jahr zurückliegenden Unfall aus seiner Sicht und argumentierte für seine Unschuld. Kraft erzählte von Baumaßnahmen, die von Arbeitern in einer Kurve ohne Warnschild durchgeführt worden seien. So überrascht habe Kraft plötzlich ausweichen müssen und sei dabei auf die Schienen der Straßenbahn geraten. Als er den heranfahrenden Zug sah, habe er sofort angehalten und zurücksetzen wollen. Jedoch habe er es nicht geschafft, den Rückwärtsgang einzulegen. Dann sei der Zusammenprall erfolgt.

In Krafts Narration lag die Schuld nun vor allem bei den „Strassenarbeitern“, die keine „Warnungstafel“ aufgestellt hatten. In zweiter Linie trage auch der Zugführer Verantwortung, „der nicht hielt, sondern einfach auf meinen Wagen auffuhr“. Soweit decken sich Krafts Darstellung und das Urteil des Kehler Landratsamtes noch. Dieses machte jedoch darüber hinaus auch ein Fehlverhalten Krafts aus, weil dieser nicht rechtzeitig zurückgefahren, sondern auf den Bahnschienen stehengeblieben war. Kraft erklärte sein Verharren auf den Schienen folgendermaßen: „Ich hielt meinen Wagen sofort an, konnte aber nicht rechtzeitig zurückfahren, da die Schaltung an diesen Wagen französischen Fabrikats viel komplizierter ist, als bei deutschen Wagen“. Eine Herabsetzung französischer Automobilhersteller, die von Kraft nicht weiter erläutert wurde; er führte sie auf wie man Banalitäten benennen würde. So verstieg sich Kraft kurz darauf sogar zu der Aussage, dass nur ein „Beamter“, der „von autotechnischen Dingen […] keine Ahnung“ habe, die Tatsache der Leistungsschwäche französischer Autos übersehen könne.

Die einige Wochen später verfasste, knapp gehaltene Antwort des Innenministers beendete die Causa bald. Pflaumer zog sich auf „verbindliche Anweisungen des Reichsführers SS und Chef der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Innern“ zurück und bedauerte, dass „Ausnahmen […] nicht zugelassen“ seien. Dem fügte sich Kraft und reichte daraufhin seinen Führerschein bei der Polizeibehörde ein.

Karl Pflaumer, 1934 (Bundesarchiv, Bild 146-2007-0027 / CC-BY-SA 3.0 [CC BY-SA 3.0 de (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0/de/deed.en)], via Wikimedia Commons) | Klicken zum Vergrößern

Ohne dass es der losgelöste Blick auf diesen Einzelfall zuließe, generalisierende Befunde zu abstrahieren, lassen sich an die Geschichte von Krafts Autounfall, seinem Protektionswunsch an Pflaumer und seiner dazu eingeschlagenen argumentativen Strategie in bürokratiegeschichtlicher Perspektive verschiedene Fragen stellen.

Bis zu welchem Grade rechtsstaatliche Normen auch im nationalsozialistischen Unrechtsstaat bindend blieben, in welchen Fällen selbst höhere Parteigenossen dem Recht doch Untertan waren und in welchen Grenzen Vetternwirtschaft und Klüngelei sich vollziehen konnten, ist noch nicht zusammenhängend untersucht worden. Pflaumer zumindest hatte in diesem Fall entweder kein Interesse oder ihm fehlte die strukturelle Handlungsmacht, Kraft zu protegieren. Doch nicht nur, dass Pflaumer hier anscheinend Rechtsempfinden über die Begünstigung eines Parteifreundes stellte und Kraft, der zu dieser Zeit in imperialer Pose durch Frankreich zog und mit führenden Vertretern des französischen Staates verhandelnd die Beschlagnahmung elsässischer Kulturgüter verantwortete, in heimischen Gefilden keineswegs Narrenfreiheit genoss; aufschlussreich im Hinblick auf die Funktionsweise von Nepotismus im  NS-Verwaltungssystem ist auch, wie Kraft sein Hilfsgesuch begründete. Er verwies nicht etwa auf seine bloße Parteizugehörigkeit oder seine Meriten als „Alter Kämpfer“ der Bewegung. Vielmehr schien Kraft, der die administrativen Abläufe gut kannte, klar gewesen zu sein, dass die parteiwirtschaftliche Bevorzugung durch rationale Gründe zumindest drapiert sein musste. Deshalb argumentierte Kraft sachlich für seine Schuldlosigkeit. Kraft verband dabei die sachliche Behauptung der angeblichen „technisch[en] [U]nmöglich[keit]“ des Rückwärtsfahrens mit dem unterschwelligen Hinweis auf seine beim Adressaten vermutlich populäre frankreichfeindliche Grundhaltung und somit auf seine politische Zuverlässigkeit. Neben einem Verständnis für die Bedeutung des Anliegens und persönlicher Sympathie – beides empfand Pflaumer möglicherweise Kraft und seinem Schutzgesuch gegenüber nicht in ausreichendem Maße – war sachliche Plausibilität anscheinend eine Grundbedingung selbst nationalsozialistischer Patronage, die wenigstens als Anstrich erforderlich blieb. Der Appell an politische Linientreue und parteiinternen Status konnte die eigenen Chancen zusätzlich verbessern.

Eine Kontextualisierung der Ereignisse öffnet eine weitere Dimension: Zwischen Krafts Rechtfertigungsschrift und Pflaumers Antwort musste das Deutsche Reich die erste große militärische Niederlage des Krieges hinnehmen. Nahezu die gesamte 6. Armee der Wehrmacht wurde in Stalingrad vernichtet. Nur zwei Tage nach Pflaumers Hilfsverweigerung rief Reichspropagandaminister Joseph Goebbels in seiner berüchtigten „Sportpalastrede“ in Berlin die deutsche Bevölkerung zum „totalen Krieg“ auf. Der beschriebene Unfall von Rheinbischofsheim und der auf ihn folgende Papierkrieg fielen also überein mit einer Phase, in der sich das Kriegsglück zu Deutschlands Ungunsten zu wenden begann und die nationalsozialistische Führung die Kriegsführung noch einmal drastisch verschärfte. Der Krieg, der für die deutsche Zivilbevölkerung bis dahin einem Siegeszug durch Europa gleichgekommen war, griff von nun an stärker auf alle denkbaren Lebensbereiche zu und drückte zunehmend auf den Alltag der Menschen. Auch die Umzugsanordnung des Reichsstatthalters Wagner an alle „noch in Karlsruhe wohnhaften, jedoch im Elsass voll beschäftigten Angehörigen badischer Dienststellen“, welche die „durch den Luftangriff noch gesteigerte[n] Wohnungsnot“ in der badischen Hauptstadt abmildern sollte, und aufgrund derer Kraft im Herbst 1942 auch persönlich nach Straßburg übersiedelte, belegt dies.

Welche Folgen aber zeitigte diese zunächst militär- und dann mittelbar gesellschaftshistorische Entwicklung im Hinblick auf das Funktionieren und alltägliche Arbeitsabläufe der badischen Verwaltung? Inwiefern beeinflusste der vielzitierte „totale Krieg“ mit seinem allumfassenden Geltungsanspruch die vielbeschworene Effizienz des deutschen Berufsbeamtentums?

Dass die doch sehr nebensächliche Angelegenheit von maximal persönlicher Bedeutung des Führerscheineintrags nicht nur über Wochen hinweg Bürokraten verschiedenster badischer Behörden beschäftigte, sondern die einzelnen Dokumente gar penibel archiviert wurden, spricht jedenfalls gegen die zunächst naheliegende Überlegung, dass der „totale“ Weltkrieg einen großen Einfluss auf die Arbeitsweise der badischen Ministerialbürokratie hatte und deren Personal durch kriegsrelevante Tätigkeiten präokkupiert gewesen wäre. Vielmehr setzten Landratsamt und Polizei – letztere sogar in Person ihres Präsidenten – das geltende Recht auf konsequente Weise und gegen Widerstände – also unter Ressourcenaufwand – durch, obwohl von dem thematisierten Fall wohl kaum Existenz und Fortbestand des deutschen Volkes abhingen. Die klare Priorisierung des Krieges als oberstem Staatsziel durch die Reichsregierung scheint die Normen und das Handeln der badischen Bürokratie also nicht nachhaltig transformiert zu haben. Auch Kraft selbst scheint die volle Fokussierung aller „Volksteile“ auf den Krieg nicht verinnerlicht zu haben, wenn er seine Kolleginnen und Kollegen aus niederen, egoistischen Beweggründen mit seinen Sonderwünschen behelligte.

Charakteristisch für die Landesbürokratien im NS-Staat ist zuletzt der Verweis auf die Reichsebene in Pflaumers ablehnender Stellungnahme, der im regionalen Verwaltungsschrifttum der Zeit immer wieder auftaucht. Zwar spiegelt er einerseits den tatsächlichen verfassungspolitischen Wandel im Hinblick auf die vertikale Machtverteilung im Deutschen Reich wider, wurden doch die Länder im Zuge des „Gleichschaltungsprozesses“ schon bald nach der nationalsozialistischen Machtübernahme ihrer Hoheitsrechte beraubt. In der Verfassungswirklichkeit jedoch behielten die „nazifizierten“ Landesregierungen zahlreiche Kompetenzen und Handlungsfreiheiten. Jenseits von Pflaumers Verhalten in Krafts Führerscheinaffäre bot die Prärogative der Reichszentrale insofern vielen regionalen Amtsträgern auch eine willkommene Gelegenheit, die Einengung des eigenen Handlungsspielraums durch Berlin zu übertreiben, um sich bei unbequemen Entscheidungen aus der Verantwortung zu stehlen.

Quelle: StAF F 110/1, 781.

„dass aber das Leben der Gendarmeriebeamten wertvoller ist als der zweifelhafte Erfolg einer Geheimhaltung“: Zielkonflikte bei der Durchführung des Gesetzes „zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“

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Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933, in: RGBl, 25. Juli 1933, Nr. 86 | Klicken zum Vergrößern

An den nationalsozialistischen Unrechts- und Gewaltmaßnahmen waren die badischen und württembergischen Landesministerien in vielerlei Hinsicht beteiligt – in besonders starkem Maße auf dem Feld der „Gesundheitspolitik“. Dies spiegelt sich auch darin wider, dass unmittelbar nach dem Untergang des „Dritten Reiches“ von der kollektiven Schuldverdrängung – alles Unheil sei aus Berlin gekommen, und in Karlsruhe und Stuttgart habe man bloß Anordnungen ausgeführt – gerade die beiden Leiter der Gesundheitsabteilungen im badischen (Ludwig Sprauer) und im württembergischen Innenministerium (Eugen Stähle) ausgenommen und strafrechtlich zur Verantwortung gezogen wurden. Die gegen sie erhobenen Anklagen bezogen sich auf ihre Mitwirkung an den als „Euthanasie“ bemäntelten Krankenmorden der Kriegsjahre, mit denen die Beteiligung der Landesministerien an den „gesundheitspolitischen“ Unrechts- und Gewaltmaßnahmen indes nicht erst begann.

Ihren Ausgangspunkt hatten diese vielmehr in dem Reichsgesetz „zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“, das zum 1. Januar 1934 in Kraft trat und den Landesverwaltungen – neben den Innen- auch den Justizministerien – bei der Administration der nun in großer Zahl einsetzenden Zwangssterilisationen eine Reihe neuer Aufgaben brachte. Neben der Instruktion der Gesundheitsämter und der Bezirksärzte, die die „Erbkrankheiten“ im Sinne des neuen Gesetzes festzustellen hatten, und der Einrichtung der Erbgesundheitsgerichte, denen die Entscheidung über die Sterilisationen oblag, gehörten auch die Anordnungen an die Polizei, die für die Zwangszuführung zu sterilisierender Personen in die Krankenhäuser zuständig war, zu den Aufgaben der Landesverwaltung. Dass in diesem Bereich Regelungsbedarf bestand und sich die Landesinnenministerien mit Anordnungen, auch weil sie in ihre Alleinentscheidungskompetenz fielen, nicht immer leicht taten, sei anhand eines Falles illustriert, der das badische Innenministerium im Jahr 1936 beschäftigte.

Entscheidungsbedarf entstand in diesem Fall durch eine Anfrage des Bezirksamtes Tauberbischofsheim, das dem Innenminister den Bericht des örtlichen Gendarmeriekommissars Ludwig weiterleitete, der die bisherige Praxis, zum „Zweck der schonenden Geheimhaltung“ zwangsweise Einlieferungen von „Erbkranken“ durch Polizeibeamte in Zivilkleidung vornehmen zu lassen, in Frage stellte. Anlass hierzu gab Ludwig eine am 13. Juli 1936 aus dem Ruder gelaufene Einlieferung, über die ein dem Schreiben anhängender Bericht der beteiligten Polizisten Auskunft gab: Im Auftrag des Bezirksamtes hatten diese den Landwirt Ludwig O. aus K. dem Gesundheitsamt Wertheim „zwecks Sterilisierung“ zwangsweise zuführen sollen. Da O. als „grober, gewalttätiger Mensch“ bekannt gewesen sei, habe man den Auftrag zu dritt – Oberwachtmeister Lutz und die Hauptwachtmeister Steck und Hößle – ausgeführt. Während Hößle, der als einziger der drei Uniform getragen habe, in einiger Entfernung zum Anwesen des O. beim Polizeikraftwagen verblieben sei, hätten Lutz und Steck die Scheune des O. betreten. Noch ehe sie ihm „den Zweck unseres Erscheinens bekanntgeben konnten, nahm derselbe einen Bengel und setzte sich mit diesem zu Wehr“. Den beiden Polizisten gelang es nicht, O. zu überwältigen, zumal diesem sein taubstummer Bruder Philipp mit einer Heugabel zur Hilfe kam. Eine Wendung nahm das Handgemenge, als der unterdessen alarmierte dritte Polizist, uniformiert und bewaffnet, in der Scheune erschien: Als „er die Situation erkannte, hat er schnell seine Dienstpistole gezogen und auf Ludwig O. angelegt. Dabei hat er gerufen: ‚Hände hoch.‘ Ludwig O. hat sich dann nicht mehr zur Wehr gesetzt“. Sein Bruder Philipp habe aber weiter Widerstand geleistet und den hinzugeeilten Hauptwachtmeister Hößle attackiert, der sich ebenfalls mit einer Heugabel zur Wehr gesetzt und diesen damit so lange geschlagen habe, „bis er die Gabel fallen liess. Hiernach griff der Taubstumme nach einer Sense; sein Bruder, Ludwig O., hat dann jedenfalls eingesehen, dass jede weitere Gegenwehr zwecklos ist und hat seinem Bruder zu verstehen gegeben, dass er den Kampf einstellen soll“.

Erntedankfest in Sigmaringen 1934: Bauern mit Sense und Mistgabeln (aus: StA Sigmaringen N 1/68 Nr. 499) | Klicken zum Vergrößern

Ein Nachspiel hatte die Einlieferungsmaßnahme noch, als Ludwig O. „in mörderischer Weise längere Zeit in seinem Hof geschrien“ habe „und zwar deshalb, dass ihm die Einwohnerschaft von K. zur Hilfe kommen soll. Als er sah, dass alles keinen Zweck hatte, erklärte er sich bereit mitzugehen. Auf der Strasse hat derselbe dann nochmals angefangen zu schreien. Als er dann sah, dass die Einwohnerschaft sich zurückhielt und nur unter ihren Türen und Fenstern sich blicken liess, konnte O. beruhigt werden; er ging dann in unserer Begleitung nach dem Kraftwagen und O. konnte dann auftragsgemäss dem Gesundheitsamt Wertheim d. h. in das dortige Krankenhaus eingeliefert werden“. Zurück blieb sein Bruder, der „durch die von uns berechtigte Notwehr zwei oder drei Kopfwunden davongetragen“ hatte. „Seine Schwägerin, die Ehefrau des Ludwig O., wurde beauftragt, einen Arzt zur Behandlung des Philipp O. zu rufen“.

Welche Konsequenzen aus dem Vorfall zu ziehen seien, legte das von Oberwachtmeister Lutz aufgesetzte Protokoll unmissverständlich nahe: Sowohl er selbst als auch seine beiden Kollegen schilderten dort das Erscheinen des Uniformträgers als Wendepunkt der Zwangsmaßnahme, die für die Polizisten lebensbedrohliche Ausmaße angenommen habe. Auch dem anschließend vernommenen Ludwig O. legte der Protokollant die Quintessenz des Vorfalls in den Mund: „Ich habe meine Verteidigung nur eingestellt, als ich sah, dass ein uniformierter Gend.Beamter in den Hof kam und mit seiner Pistole auf mich anlegte“, so O., der zudem verneinte, „dass ich einen Fehler gemacht habe. Ich wollte mich eben mit allen Mitteln zur Wehr setzen. Da ich jetzt schon so alt bin, kann ich nicht verstehen, dass man mich zur Unfruchtbarmachung wegbringt“. Lutz kam darüber hinaus zu einem interessanten Urteil über O.: „Wenn derselbe auch geistig etwas beschränkt ist, dann kann doch gesagt werden, dass derselbe für seine Tat voll verantwortlich gemacht werden kann. Er macht den Eindruck eines gerissenen und verschlagenen Menschen“.

Mochte diese Wahrnehmung die Frage aufwerfen, wie ein wegen „angeborenen Schwachsinns“ Stigmatisierter – so offenkundig die Zuschreibung auf der Grundlage des Gesetzes „zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ – für seine Tat voll verantwortlich sein konnte, so interessierten die vorgesetzten Behörden lediglich die polizeiadministrativen Weiterungen des Falles. Der zuständige Gendarmeriekommissar jedenfalls erblickte in ihm ein starkes Argument dafür, das bisherige Einlieferungsverfahren flexibler zu handhaben: „Der Widerstand wäre vermutlich nicht vorgekommen oder hätte doch im Entstehen gebrochen werden können, wenn die Beamten in Uniform gewesen wären. Dem Ersuchen des Gesundheitsamtes entsprechend, wurden die zwangsweisen Einlieferungen bis jetzt in Zivil durchgeführt. Nach diesem schweren Widerstand bitte ich jedoch, dass künftig von Zivilkleidung abgesehen werden kann, wo das nach Sachlage hier für erforderlich gehalten wird. Dies ist umso unbedenklicher, als der Zweck der schonenden Geheimhaltung mit der zwangsweisen Vorführung doch nicht mehr erfüllt werden kann, einerlei, ob die Beamten auch in Zivil sind“.

Schreiben des Innenministeriums vom 8. August 1936 (aus: GLA 236 28569) | Klicken zum Vergrößern

Der Tauberbischofsheimer Landrat Hans Goll, der den Vorgang ans Innenministerium weiterleitete, hielt die Auffassung für richtig, „dass bei zwangsweiser Einlieferung die Zivilkleidung des Gendarmeriebeamten die Geheimhaltung nicht mehr verbürgt, dass aber auf der anderen Seite das Leben der Gendarmeriebeamten wertvoller ist als der mindestens zweifelhafte Erfolg einer Geheimhaltung bei erbkranken Personen“. Dass der Landrat somit dem Gendarmeriekommissar in dem kaum verhohlenen Plädoyer sekundierte, auf die Geheimhaltung wegen erwiesener Nutzlosigkeit zu verzichten, machte in Karlsruhe keinen Eindruck: Zu mehr als der Mitteilung an alle Bezirksämter, Polizeipräsidien, Polizeidirektionen und Gesundheitsämter, dass nichts dagegen eingewendet werde, „wenn in einzelnen besonders begründete Ausnahmefällen die Anwendung unmittelbaren polizeilichen Zwangs gegen Unfruchtbarzumachende durch uniformierte Beamte erfolgt“, konnte man sich im Innenministerium nicht entschließen. Die Geheimhaltung, die in Reaktion auf beziehungsweise in Antizipation von Unmutsäußerungen über die nationalsozialistische „Erbgesundheitspolitik“ verfügt worden war, blieb also bei der zwangsweisen Einlieferung von „Erbkranken“ der Regelfall.

 

Quelle:

GLA 236 28569 (anonymisiert)

„Das war mein großer Leidensweg“: Warum der Arbeiter Friedrich Müller für eine „Schutzhaftstrafe“ im Jahr 1933 nicht entschädigt wurde

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Zu den wiederkehrenden Erfahrungen der Archivarbeit gehört es, bei der Aktenaushebung Nieten zu ziehen. Im Rahmen unseres Forschungsprojekts hat sich die Gefahr solcher Fehlgriffe bei den biographischen Recherchen als recht groß erwiesen, etwa wenn Personal-, Versorgungs-, Spruchkammer- oder Wiedergutmachungsakten von Ministerialbeamten gesichtet werden, die Allerweltsnamen trugen. So erhielt der Verfasser dieser Zeilen, auf der Suche nach Informationen über einen Beamten aus dem badischen Kultusministerium namens Friedrich Müller, unlängst die Wiedergutmachungsakte eines gleichnamigen Mannheimer Arbeiters. In Missachtung des Gebots, immer effizient zu forschen, wurde die Akte nicht prompt zum Reponieren gegeben, sondern gelesen – und dies mit einigem Gewinn, weil sich in der schmalen Akte einige der zentralen politischen Verwerfungen des 20. Jahrhunderts in der mikroskopischen Perspektive einer Einzelbiographie widerspiegeln. Die Lektürefrüchte seien an dieser Stelle, auch wenn sie nicht im Geringsten zur Erhellung der Geschichte der Landesministerialbürokratie im Nationalsozialismus beitragen, deshalb kurz vorgestellt.

Wiedergutmachungsantrag von Friedrich Müller, 10. Januar 1949 (aus: GLA 480 4577) | Klicken zum Vergrößern

Im Januar 1949 stellte der damals 47-jährige Friedrich Müller bei der Landesbezirksstelle für die Wiedergutmachung Karlsruhe einen Antrag auf Wiedergutmachung der Schäden, die er im Frühjahr 1933 durch politische Verfolgung erlitten hatte. Als Grund der Verfolgung nannte Müller seine Mitgliedschaft in der SPD und seine Funktion als „Bannerträger“ beim Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, der 1924 von den Parteien der Weimarer Koalition gegründeten Republikschutzorganisation. Als uniformierter Reichsbannermann sei er den Nationalsozialisten in Ludwigshafen, wo er damals wohnte, als politischer Gegner bekannt gewesen und bald nach der Machtübernahme in „Schutzhaft“ genommen worden. Über die genaue Dauer seiner Haft konnte Müller keine Angaben mehr machen: Er sei irgendwann Anfang März 1933 verhaftet und nach etwa acht Wochen wieder auf freien Fuß gesetzt worden; dies bestätigte ihm ein bereits damals im Dienst gewesener Ludwigshafener Polizeiinspektor, der jedoch auch keine Daten nennen konnte, da die Verwahrungsbücher des Reviers bei einem Bombenangriff vernichtet worden waren. Dieser konnte sich aber noch erinnern, dass die Einlieferung Müllers durch SS-Männer „jedenfalls politischer Art“ gewesen sei. Als Vermögensschäden machte Müller in seinem Antrag einen Verdienstausfall – er war damals als Mehlträger bei einem Fuhrunternehmen beschäftigt gewesen – in Höhe von 800 Reichsmark sowie den Verlust seiner Reichsbanneruniform mit einem Wert von 320 Reichsmark geltend.

Die Mühlen der Wiedergutmachungsbürokratie scheinen in Müllers Fall sehr langsam gemahlen zu haben, denn in der Akte findet sich als Folgedokument ein anderthalb Jahre nach dem Antrag eingegangenes Verzeichnis seiner Vorstrafen, das die Landesbezirksstelle bei der Staatsanwaltschaft bei dem Landgericht Frankenthal angefordert hatte. Dieses Verzeichnis umfasst 14 Einträge: Der älteste verweist auf eine Gefängnisstrafe von zwei Monaten aus dem Jahr 1919 wegen schweren Diebstahls, der jüngste auf eine dreieinhalbmonatige Gefängnisstrafe aus dem Jahr 1949 – also nach Eingang des Wiedergutmachungsantrags. Die Verurteilung war in diesem Fall erfolgt wegen „fortgesetzten Vergehens der Blutschande“, so die bis in die frühen 1970er Jahre hinein im Strafrecht gebräuchliche Bezeichnung für den „Beischlaf zwischen Verwandten“ (§ 173 StGB). Die übrigen in Müllers Vorstrafenregister erfassten Delikte hatten geringere Strafen nach sich gezogen: zwischen 1923 und 1930 Unfug, Widerstand gegen die Staatsgewalt, Amtsanmaßung, Beamtenbeleidigung, Körperverletzung und üble Nachrede, in den Jahren 1935 und 1936 Körperverletzung, Unfug und Betrug.

Vorstrafenregister von Müller, 10. Juli 1950 (aus: GLA 480 4577) | Klicken zum Vergrößern

Etwa zeitgleich mit dem Eingang des Vorstrafenregisters erreichte die Landesbezirksstelle im August 1951 ein Erinnerungsschreiben Müllers, in dem er die „Schutzhaftstrafe“ aus dem Jahr 1933, die im Übrigen den Verlust seines Arbeitsplatzes nach sich gezogen hatte, in eine Reihe mit weiteren Schicksalsschlägen stellte: „1943 bin ich total ausgebombt. 1944 bin ich zu Militär eingezogen worden und 1947 aus Gefangenschaft zurückgekehrt. Das ist ein großer Leidensweg“. Er sei arbeitslos, seit einem halben Jahr geschieden, lebe mit seinen zwei Kindern in elenden Verhältnissen und könne nicht verstehen, warum man einen „armen Teufel“ wie ihn „darben“ lasse, während andere Anträge längst erledigt seien. „Die Flüchtlinge bekommen Geld und alles und haben Arbeit nur uns zieht man den Hals zu“.

Der Bitte um Erledigung seiner Angelegenheit kam die Landesbezirksstelle nun rasch nach, allerdings mit einem anderen Ergebnis als dem von Müller erwarteten, denn sein Antrag auf Haftentschädigung wurde abgelehnt. Mit Schreiben vom 19. September 1951 wurde Müller mitgeteilt, dass die Bestimmungen des Gesetzes zur Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts vom 16. August 1949 in seinem Fall keine Anwendung finden könnten, da eine Verfolgung „wegen politischer Überzeugung“ nicht vorliege. Nach „ständiger Rechtsprechung der Wiedergutmachungsgerichte“ werde darunter nämlich eine „auf sittlicher Grundlage beruhende und während einer gewissen Zeitdauer bewährte Grundeinstellung in den Fragen des Verhältnisses zwischen Staat und Einzelpersönlichkeit verstanden“. Eine solche vermochte man bei Müller nicht zu erkennen, dem stattdessen sein langes Strafregister vorgehalten wurde. Es sei „bekannt“, so ein historischer Exkurs in dem Ablehnungsschreiben, „dass Personen, die sich schon oft als gemeinschaftsfeindlich und ordnungswidrig gezeigt hatten, in Schutzhaft genommen worden sind, ohne dass ihre politische Überzeugung dabei eine Rolle oder wenigstens nicht die Hauptrolle gespielt hat“. Es sei nicht von der Hand zu weisen, „dass Sie vor allem wegen ihres Verhaltens auf unpolitischem Gebiete in Haft gewesen sind. Solange diese Möglichkeit besteht, kann Ihrem Antrage auf Haftentschädigung nicht entsprochen werden“.

Der Argumentation der Landesbezirksstelle Plausibilität zu unterlegen, fällt schwer: So lässt die Schlusspassage des Schreibens offen, ob auf der Hand liege oder nur die Möglichkeit bestehe, dass Müller nicht aus politischen Gründen inhaftiert worden war. Merkwürdig mutet auch an, dass die Prüfung der „politischen Überzeugung“ lediglich anhand des Strafregisters erfolgte, und geradezu widersinnig erscheint das Argument, dass aus den „beigezogenen Strafakten“ nicht hervorgehe, dass Müller „den Gerichten jemals als Träger einer gefestigten politischen Überzeugung bekannt“ war. Hier drängt sich die Frage auf, wegen welcher Vergehen mit politischen Implikationen Müller denn vor 1933 überhaupt hätte straffällig werden können, oder ob ihm indirekt vorgehalten wurde, dass er nach seiner „Schutzhaft“ nicht erneut in die Fänge der NS-Justiz geraten war. Auch deckt sich die Bewertung der „Schutzhaftaktionen“ des Jahres 1933, die für die Landesbezirksstelle offenkundig teilweise bloße ordnungspolizeiliche Maßnahmen waren, um „Gewohnheitsverbrecher“ kurzzeitig von der Straße zu bringen, nicht mit dem aktuellen Forschungsstand zu dieser Problematik.

Großer Reichsbanner-Gau-Tag in Brandenburg an der Havel im Jahr 1928 (aus: Bundesarchiv, Bild 102-05973 / CC-BY-SA 3.0, CC BY-SA 3.0 de, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=5479763) | Klicken zum Vergrößern

Schließlich war auch fraglich, ob Müller denn überhaupt als „Gewohnheitsverbrecher“ – dieser von den Nationalsozialisten im Strafrecht verankerte Begriff tauchte in dem Ablehnungsbescheid zwar nicht auf, schwang aber doch wohl mit, wenn von fortgesetztem „gemeinschaftsfeindlichen“ Verhalten die Rede war – gelten konnte. Die Stuttgarter Staatsanwaltschaft, die von der Landesbezirksstelle zwischenzeitlich um eine Einschätzung von Müllers Vorstrafen gebeten worden war, hatte der Ansicht zugeneigt, „dass man dem Antragsteller seinen Anspruch auf Haftentschädigung trotz der Vorstrafen zuerkennen kann, da diese Vorstrafen mit Ausnahme eines Diebstahls im Jahr 1919 und eines Betruges im Jahr 1936 zwar für eine gewalttätige Veranlagung, nicht aber für eine ausgesprochene Kriminalität des Antragstellers sprechen“. Wollte man zu einer noch milderen Bewertung seines Strafregisters kommen, so ließe sich hervorheben, dass Müller vom Jahresende 1930, als er wegen übler Nachrede eine dreiwöchige Haftstrafe verbüßte, bis zum Zeitpunkt seiner Schutzhaft gar nicht mehr straffällig geworden war – also in jenem Zeitraum, in den auch sein Anschluss an die Sozialdemokratie und seine Tätigkeit im Reichsbanner fielen, die offensichtlich eine günstige Wirkung auf sein zuvor problematisches Sozialverhalten gehabt hatten.

Der Zurückweisung von Müllers Anspruch auf Haftentschädigung vom September 1951 folgte vier Monate später der Bescheid, dass auch die geltend gemachten Ansprüche wegen Schadens im wirtschaftlichen Fortkommen (der Verdienstausfall während der Schutzhaft) und Schadens an Eigentum und Vermögen (die beschlagnahmte Reichsbanneruniform) abgelehnt werden. Gegen diesen Bescheid erhob Müller Anfang März 1952 Klage. „Da mir die Nazi meine Schuhe und Uniform gestohlen haben und bin noch total ausgebombt und zwei Jahre in Gefangenschaft gewesen, muß mein Fall ganz groß in alle Zeitungen. Ich werde einen grossen Zeugenapparat aufstellen“, hieß es in seinem Schreiben, das die Nachreichung einer Klageschrift ankündigte. Diese legte der öffentliche Anwalt für die Wiedergutmachung beim Amtsgericht in Mannheim, der sich unterdessen des Falles angenommen hatte, sechs Wochen später vor. Zur Verhandlung kam die Klage am 23. Februar 1953 vor der Entschädigungskammer beim Landgericht Karlsruhe, die Müller eine erneute Enttäuschung bereitete: Sie wies die Klage als unzulässig zurück, da sie vier Tage nach Fristablauf erhoben worden sei. In der Begründung des Beschlusses erörterte die Entschädigungskammer folglich auch nur auf breitem Raum, wie lange die Post wohl gebraucht haben dürfte, den angefochtenen Bescheid von Karlsruhe nach Mannheim zu transportieren, und verzichtete auf eine Prüfung der materiell-rechtlichen Fragen des Falles – allerdings nicht ohne „nebenbei“ zu bemerken, dass sie im Falle Müllers nicht von einer „achtbaren politischen Überzeugung“ ausgehe, weil „aufgrund seiner 13 Vorstrafen … anzunehmen ist, daß er zur staatlichen Ordnung und zum Leben in der Gemeinschaft wenigstens damals nicht die richtige Einstellung aufbrachte“.

Ob dieser Beschluss dazu beitrug, dass Müller zur staatlichen Ordnung und zum Leben in der Gemeinschaft der frühen Bundesrepublik die richtige Einstellung entwickeln konnte, sei dahingestellt. Die Entschädigungssache scheint ihn jedenfalls noch über Jahre hinweg beschäftigt zu haben. Das letzte Dokument in der Karlsruher Wiedergutmachungsakte ist ein längeres Schreiben Müllers vom 3. Mai 1961, in dem er sich nochmals über seine mehrwöchige „Schutzhaft“ im März und April 1933 äußert, dieses Mal auch mit einigen Ausführungen über seine Haftbedingungen inklusive körperlicher Misshandlungen und über seine Haftentlassung wenige Tage vor der Niederkunft seiner Frau. Die Wiederaufnahme seines Falles versuchte Müller 1961 nicht in Karlsruhe, sondern beim Bezirksamt für Wiedergutmachung in Neustadt an der Weinstraße, wo die Zuständigkeit für den früheren Schutzhaftort Ludwigshafen lag. Ob der Fall mit einem zeitlichen Abstand von etwa zehn Jahren und in Rheinland-Pfalz anders beurteilt wurde als beim Erstentscheid in Baden-Württemberg, kann der Verfasser dieser Zeilen nicht berichten, da ihn das Effizienzgebot bislang davon abgehalten hat, der zweiten Wiedergutmachungsakte im Fall Friedrich Müller nachzuspüren.

Quelle: GLA 480 4577

 

„Nimm den Ausdruck, den Du in guter Mundsprache verwenden würdest.“ Forderungen zur Amtssprache des Beamtentums im Nationalsozialismus

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„Sprachecke“ in der Württembergischen Verwaltungszeitschrift, Nr. 10 / 1933, S. 254

Auch wenn Hitlers Abneigung gegen jedwede Bürokratie, sein außerhalb jeder Verwaltungsroutine liegender Regierungsstil und wohl nicht zuletzt das Agitieren der Nationalsozialisten gegen ein vermeintliches „Parteibuchbeamtentum“ seit den zwanziger Jahren den staatlichen Verwaltungseliten ein überaus schlechtes Image bescherten: Das Beamtentum war ein elitärer Berufsstand, der in seiner traditionell staatstragenden Funktion, mit der Expertise und seiner berufsständischen Machtposition eine zentrale Bedeutung für die Nationalsozialisten haben musste. Nicht zuletzt deshalb war der Zugriff auf diese Gruppierung von höchster Bedeutung, obwohl die Frage nach deren Rolle im „neuen Staat“ mit der Machtübernahme Anfang 1933 keinesfalls klar umrissen war. Auch wenn heute dank zahlreicher Studien kein Zweifel mehr darüber besteht, dass die Beamten – abgesehen von wenigen Ausnahmen – eine große Bereitschaft zur Unterstützung nationalsozialistischer Politik an den Tag legten und dabei nicht selten eigeninitiativ und „vorauseilend“ handelten: Besonders Akteure aus der staatlichen Verwaltung, in der Regel der traditionellen Ministerialbürokratie entstammend, aber ebenso aus zum Teil neu gegründeten Parteiorganisationen, Wirtschaftsverbänden und wissenschaftlichen Institutionen oder schlicht Gewährsmänner aus Hitlers Dunstkreis verhandelten sehr offensiv die Frage, wie der Beamte (und die Beamtin) im „Dritten Reich“ zu sein hatte. Es ging um die Fragen, welchen ideologischen Leitmustern die Handlungsstrategien des Beamten folgen sollten und wie sich das Verhältnis zwischen Beamtentum und Nationalsozialismus sowie Staat und Partei grundsätzlich zu gestalten hatte. Ganz wesentlich bilden sich diese Aushandlungsprozesse beispielsweise in Beiträgen in diversen Fachzeitschriften und Schriftenreihen der Beamtenschaft ab, auch im Ausbildungs-, Weiterbildungs- und Schulungswesen können Leitbilder des Beamtentums im Nationalsozialismus identifiziert werden und nicht zuletzt zeigen auch die Gesetze und Verordnungen zwischen 1933 und 1945, welche Position den Beamten im NS-Regime zugedacht war.

Die Frage danach, wie der Beamte zu sein hatte, betraf viele Bereiche, trieb allerdings mitunter seltsame Blüten: In der Württembergischen Verwaltungszeitschrift stand beispielsweise wiederholt das Thema der „Amtssprache“ auf der Agenda. In der auf dem ersten Blick vollkommen unpolitischen Rubrik „Sprachecke“ wurde regelmäßig darüber informiert, welche Sprachmuster in der alltäglichen Verwaltungspraxis ersetzt und verknappt werden könnten. So kommentierte man etwa die vor allem intern gern genutzte Formel „Zur weiteren Veranlassung“: sehe „etwas faul aus“. Es wurde kurzerhand vorgeschlagen, dem Empfänger „deutlich“ mitzuteilen, „was zu geschehen hat“ bzw. andernfalls die Wendung, „das weitere zu besorgen“, vorzuziehen. Diesen pragmatisch veranlassten Anmahnungen wurden auch sprachlogische Fragen an die Seite gestellt: Die „Rückgabe nach gemachten Gebrauch“ erschien widersinnig, wurde doch ein Gebrauch durchaus nachvollziehbar als „selbstverständlich“ vorausgesetzt. Auch einzelne Wörter („diesseits, hierorts“ wurde zu „zu“) bzw. schwer verständliche Wendungen sollten durch von der „Sprachberatungsstelle des Deutschen Sprachvereins“ geprüfte Vorschläge ersetzt werden. Diese Rubrik liest sich heute mit einem Schmunzeln und scheint so manche Beamtenklischees zu bestätigen, sie erinnern nicht selten an Beamtenwitze oder politischen Debatten wenn es um „Bürokratisierung“ und den schon damals vielmals abschätzig gebrauchten Begriff des „Beamtendeutsch“ geht.

Allerdings ließen sich diese Überlegungen zur Amtssprache, die in ganz ähnlicher Argumentation schon vor 1933 und auch nach 1945 existierten, in ideologisch durchdrungenen Forderungen ganz einem Leitgedanken nationalsozialistisch geprägter Verwaltungsvorstellungen einpassen: Dies offenbart sich nicht nur in einer Ablehnung der Phrase „gegen den Beschluss wird nichts erinnert“, der als „altes und volksfremdes Aktendeutsch“ bezeichnet wurde. In einem Artikel zur Amtssprache aus dem Sommer 1934 wird darüber hinaus anschaulich dargestellt, welchen Hintergrund diese sprachlichen Korrekturen für den „deutschen Beamten“ besaßen: Die Nationalsozialisten zielten einerseits darauf ab, der Beamtenschaft, ganz dem ideologischen Konstrukt einer „Volksgemeinschaft“ entsprechend, über sprachliche Simplifikationen einen vermeintlich elitären Habitus zu entziehen. Der Beamte war „Volksgenosse“ und hatte sich zuvorderst über sprachlich „volksnahes“ Gebaren in dieses Gesellschaftskonstrukt einzupassen. Es ging darum, einem „neuen Geist Platz [zu] schaffen“, in „natürlichem Deutsch zu denken und zu schreiben“.  Einfache, klare, präzise, flüssige Sprachformeln waren offenkundige Forderungen, „gepflegte Mundsprache“, die „Tatform“ anstatt der „Leideform“ zu nutzen und kurze Sätze waren die Devise in der „neue[n] Zeit“. Andererseits betonten die Nationalsozialisten bei jeder Gelegenheit die Abneigung gegen die lebensfremde Sprachpraxis der Beamtenschaft in der Vergangenheit: Das „zopfige, verholzte und verwelschte Amtsdeutsch“ stand in der Kritik, „ungefühltes verwaschenes Zeug“ zeige nur unklares Denken, die „Hauptwörtersucht“ und Befangenheit vieler Beamter und Juristen in Begriffsvorstellungen der Fachwissenschaft könnten weder „das Leben und die Vorgänge so schildern“, wie sie sich „vom Volke aus darstellen“, noch „einzelnen Volksgenossen gegenüber anschaulich und verständlich“ werden.

Wie sich an diesem Beispiel zeigt, wurde in dem Zusammenhang mit der Kommunikation darüber verhandelt, wie sich der „deutsche Beamte“ zu verhalten hatte und welche Leitvorstellungen seinem Handeln zugrunde gelegt werden sollten. Obwohl die Forderungen nach einer „neuen“ Sprachpraxis in den Amtsstuben des Reiches keinesfalls etwas „spezifisch“ Nationalsozialistisches waren, konnten über die neuen Sprachgewohnheiten der Beamtenschaft offenkundig Verbindungen zur Ideologie der Nationalsozialisten gezogen werden. Zugleich passten sich die Forderungen nach „Volksnähe“, Verständlichkeit und Knappheit in der Sprache des Beamten nahtlos in das Konstrukt der Volksgemeinschaft ein.

Quelle: Württembergische Verwaltungszeitschrift, Jg. 1933-1934.

 

Die Feierlichkeiten an den Jahrestagen der nationalsozialistischen Machtübernahme in Baden 1934–1943

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Der prall gefüllte politische Festkalender des „Dritten Reiches“, der sich vom „Tag der nationalen Erhebung“ am 30. Januar bis zum „Gedenktag für die Bewegung“ am 9. November erstreckte, bot regionalen Sonderentwicklungen wenig Raum, jedenfalls sofern eine erinnerungspolitische Übersättigung vermieden werden sollte. Gleichwohl versuchten die badischen Nationalsozialisten, den Tag der Machtübernahme in Karlsruhe – als Bezugspunkte hierfür kamen der Einzug Robert Wagners als Reichskommissar am 9. März 1933 oder auch die Absetzung der letzten demokratisch legitimierten Landesregierung zwei Tage später in Frage – als Festtag zu inszenieren. Dass dies nicht dauerhaft gelang, soll der folgende kurze Überblick zu den Feierlichkeiten in den Jahren von 1934 bis 1943 illustrieren, der auch die Frage streifen wird, wie sich die Bedeutungszuschreibungen der Machtübernahme in regionaler Perspektive wandelten.

„Der Führer“ vom 9. März 1934 | Klicken für gesamten Artikel

Auf den ersten Jahrestag der Machtübernahme stimmte das nationalsozialistische Parteiblatt „Der Führer“ seine Leserinnen und Leser am 8. März 1934 mit dem Abdruck eines Standortsonderbefehls des Führers der SA-Brigade Mittelrhein ein. Diesem hatte Reichsstatthalter und Gauleiter Wagner die Leitung eines Marsches übertragen, der am Folgetag die Stationen seines Zuges vom Engländerplatz zum Schlossplatz nachvollziehen sollte, wo Wagner am 9. März 1933 mit der Entmachtung des bisherigen Innenministers Erwin Umhauer und der Inbesitznahme der Polizeigewalt den Grundstein für die Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur in Baden gelegt hatte. Den inzwischen „historischen Marsch“ zum Schlossplatz rief „Der Führer“ in seiner Morgenausgabe vom 9. März 1934 im Detail in Erinnerung und prognostizierte, dass bei der Reinszenierung des Ereignisses „statt der 3000 von damals heute 30000 marschieren“ werden „und die Straße sich … verwandeln“ werde „in einen unabsehbaren, endlosen Menschenstrom“.

Die historische Deutung des Ereignisses lieferte in der gleichen Ausgabe ein Leitartikel, der dem 9. März wenig Heroisches unterlegte, sondern ihn als längst überfälligen Zusammenbruch eines überlebten Systems schilderte. Zwar sei es nötig gewesen, die „Hauptgrößen des rot-schwarzen Verrätersystems“ sofort in „Schutzhaft“ zu nehmen; die Sympathie der Bevölkerung für die Machtübernahme sei aber so groß gewesen, dass Wagners Marsch statt eines Eroberungs- ein Triumphzug gewesen sei: „Die Herzen von Hundertausenden schlagen höher, jubeln, weinen vor Freude und Dankbarkeit. Die Herzen derer, die schlechten Gewissens sind, droht die Angst zu zersprengen. Knieschlotternd erwartet mancher Landrat, Regierungsrat, Bürgermeister und Gemeinderat das drohende Gericht“. Wichtiger als die regionale Perspektive war dem Leitartikler indes die übergreifende Bedeutung des 9. März: Mit der Absetzung der bisherigen Regierungen „in den süddeutschen und anderen Ländern“ war „für Deutschland ein Akt vollzogen, dessen gewaltige Bedeutung damals vielleicht nur die wenigsten klar erkennen konnten und dessen tiefen Sinn wir erst heute voll begreifen, wo bereits der Weg von der Zerstörung der alten Überreste des Partikularismus weiter gegangen worden ist und deutsche Staat des deutschen Volkes in seinen großen Fundamenten bereits vor uns steht“.

Das hierin aufscheinende Grunddilemma badischer Machtübernahmefeierlichkeiten, nämlich dass der 9. März 1933 als der Ausgangspunkt eines Zentralisierungsprozesses erschien, in dessen Verlauf sämtliche regionale Sonderidentitäten verloren zu gehen drohten, blendete Wagner konsequent aus, als er am Nachmittag des 9. März 1934 am Zielpunkt des angeblich von 80.000 Zuschauern gesäumten Zuges nach Abschreiten der Front der Polizei seine Festansprache hielt. In ihr zog der Reichsstatthalter eine rein badische Leistungsbilanz, in der er drei Hauptaufgaben der „Aufbauarbeit“ des vergangenen Jahres hervorhob: Es sei zunächst darum gegangen, „die staatliche und kommunale Verwaltung und die gesamte Polizei einer gründlichen Wiederherstellung zu unterziehen, um endlich wieder den Geist in das Beamtentum hineinzutragen, der unser Volk vorwärts und aufbringen muß“. Hierzu seien „mehr als tausend Männer anderer Weltanschauung aus Verwaltung und Polizei ausgeschieden“ worden. Zweitens sei es nötig gewesen, „den Marxismus zu überwinden und den Kommunismus niederzuwerfen“. Auch dies sei gelungen, meinte Wagner, der sich erfreut darüber zeigte, dass der „einst marxistische Arbeiter eine der zuverlässigsten und treuesten Stützen des neuen Deutschland geworden ist“. Drittens mussten „die gesamten Träger des Verfalls, des Niedergangs und der Zerrissenheit unseres Volkes ausgeschaltet werden“. Wagner glaubte, „auch hier feststellen zu dürfen, daß diese Aufgabe im Verlaufe dieses einen Jahres nationalsozialistischer Führung und Arbeit gelöst ist“, und sah sich deshalb veranlasst, Gnade walten zu lassen: 40 Personen, „die wir wegen ihrer inneren Einstellung zum neuen Staat in Schutzhaft nehmen mußten“, wurden zum Festtag der Machtübernahme in Baden auf freien Fuß gesetzt. Darunter befanden sich auch der im Konzentrationslager Kislau einsitzende frühere sozialdemokratische Landesminister Adam Remmele und sein Sekretär Hermann Stenz, der sich einem begleitenden Bericht im „Führer“ zufolge in der Haft ausgezeichnet geführt und „in dreivierteljähriger Arbeit … hervorragende Stukkateurarbeiten im früheren Kislauer Lustschlößchen geleistet“ hatte.

Walter Köhler, 1929. GLA Karlsruhe 231 Nr. 2937 (980) | Klicken zum Vergrößern

Standen die Karlsruher Machtübernahmefeierlichkeiten im Jahr 1934 somit ganz im Zeichen der nachträglichen Auseinandersetzung mit den politischen Gegnern von 1933, die erfolgreich ausgeschaltet worden seien, so setzte Ministerpräsident Walter Köhler ein Jahr später andere Akzente bei der Feier, die 1935 am 11. März und in wesentlich kleinerem Rahmen durchgeführt wurde: als ein „Staatsakt“ im großen Sitzungssaal der Reichsstatthalterei in Anwesenheit der badischen Minister sowie der „Spitzen der Partei, der staatlichen und städtischen Behörden und der Wirtschaft“. Auch für Köhler waren der Bezugspunkt die vermeintlich unhaltbaren Zustände in Baden am Vorabend der Machtübernahme, die er allerdings ohne Schuldzuweisungen an rote oder schwarze „Verräter“ nur allgemein schilderte. Dabei richtete er den Fokus auf die Wirtschaft und die Finanzen, „deren Zustand geradezu grauenerregend war“. Nach dem Lob der Errungenschaften, die er selbst als Finanz- und Wirtschaftsminister auf diesem Feld habe verbuchen können, kam Köhler dann auf die Gegenwartsfragen zu sprechen, indem er das im „Führer“-Leitartikel des Vorjahres aufgeworfene Problem von Zentralisierung und Regionalidentitäten aufgriff und auf die einige Wochen zuvor erfolgte Aufhebung der Landesjustizministerien verwies. Zwar werde die „Reichsreform“ weitergeführt; es bestehe „indessen keinerlei Grund zur Nervosität. Es wird nichts zerstört, was in Jahrzehnten und Jahrhunderten organisch gewachsen ist, sondern aufgebaut. Wir wissen, daß das Reich, das die Lage Badens klar erkennt, richtige Entscheidungen treffen wird“.

Waren die Feierlichkeiten von 1935, bei denen Köhler den Zuhörern Mut zusprach, auf die Weisheit der Reichsreformer in Berlin zu vertrauen, deutlich bescheidener gestaltet worden als im Vorjahr, so entfielen sie 1936 ganz – Grund dafür war ein Besuch Adolf Hitlers am 12. März in Karlsruhe, wo er im Hochschulstadion eine Rede hielt und somit keinen Platz für eine konkurrierende Veranstaltung ließ, zumal wenn diese badische erinnerungspolitische Implikationen haben sollte. Nachdem auch 1937 der Tag der badischen Machtübernahme ohne Festlichkeiten blieb, wurde 1938 eine Fünfjahresfeier begangen: In „einer gewaltigen Großkundgebung“ vor „12000 Volksgenossen“ sprachen am 9. März sowohl Ministerpräsident Köhler als auch Reichsstatthalter Wagner in der Karlsruher Markthalle.

Zunächst gehörte die Bühne Köhler, der inzwischen für den Spagat zwischen Zentralisierung und Regionalidentität die Formel „deutsche Politik am Oberrhein“ gefunden hatte. In der Sache wusste der Ministerpräsident nicht viel mehr zu berichten als drei Jahre zuvor, konnte die finanz- und wirtschaftspolitische Leistungsbilanz seiner Regierung nun aber wesentlich ausschmücken: Die führende Stellung Badens im Reich „auf dem Gebiet der Landgewinnung“ wurde ebenso angesprochen wie die Ertragssteigerungen im Anbau von Zuckerrüben und Wintergerste sowie der frühe Anschluss Badens an die Reichsautobahn. Mochten Köhlers Ausführungen eher kleinteilig wirken, so widmete sich Wagner anschließend dem großen Ganzen, indem er in nur ganz lockerer Verbindung mit dem Festanlass über die Partei und die nationalsozialistische Weltanschauung sprach. Regionalspezifische Aspekte fanden sich in Wagners Rede, die so oder so ähnlich auch von jedem anderen Reichsstatthalter oder Gauleiter hätte gehalten werden können, nur in der Schlusspassage, in der er das Wachstum der badischen Parteiorganisation von 24.000 Mitgliedern im Jahr 1933 auf 168.000 im März 1938 würdigte.

1939 verstrich der 9. März in Karlsruhe erneut ohne Feier – welche Rolle dabei das offenkundige Fehlen jeglicher Leitgedanken, die eine regionale Machtübernahmefeier legitimieren konnten, spielte, muss offenbleiben. Immerhin mühte sich in diesem Jahr der Hauptschriftleiter des „Führers“, Karl Neuscheler, um eine Aktualisierung des Gedenktags und rückte in einem Leitartikel die geostrategische Bedeutung der badischen Machtübernahme von 1933 in den Vordergrund: Der 9. März sei der „Tag der großen politischen Wende am Oberrhein“, wo bis dahin eine rot-schwarze Hochburg zum „Unglück des ganzen Reiches“ bestanden habe. In dieser „Weißglut der Reichsfeindlichkeit“ sei von Wagner „hier im Gau Baden schon früh eine kämpferische Garde der völkischen Revolution geschmiedet worden, die allen Stürmen zu trotzen im Stande war. Hier mußte der Kelch des Leidens aller aufrechten Deutschen bis zur Neige getrunken werden. Hier ist deshalb auch hart am gemeinsten und brutalsten Feinde die siegesgewaltige nationalsozialistische Idee mit am tiefsten in die Seele gebrannt worden“. Folglich hatte der 9. März für Neuscheler eine überregionale Bedeutung: „Aus einer Hochburg internationaler Verseuchung und nationaler Niedergeschlagenheit eine Hochburg fanatischen völkischen Glaubens und Willens zu machen, das ist schon eine einmalige geschichtliche Tat innerhalb des großen Befreiungswerkes des Führers. Das war die erste, die eigentliche, innere Rheinlandbefreiung hier in der Südwestecke des Reiches“.

„Der Führer“ vom 11. März 1943 | Klicken zum Vergrößern

Neuschelers Nationalisierung des Karlsruher 9. März 1933 mochte ein lukratives Interpretationsangebot sein, das mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs und die durch ihn akut gewordene „Grenzmarkstellung“ Badens noch an Plausibilität gewinnen konnte; zu einer nachhaltigen Belebung des badischen Machtübernahmetages in der politischen Festkultur führte sie indes nicht. Erst zu seiner zehnten Wiederkehr wurde er wieder gefeiert, allerdings nicht in einem Staatsakt, sondern in lokalen Festveranstaltungen der örtlichen Parteiorganisationen. Am 9. März 1943 versammelten sich zum Beispiel in Karlsruhe die Parteigenossen der Ortsgruppe „dicht gedrängt“, in den ersten Reihen „die alten Parteigenossen, Männer und Frauen der Bewegung, die bereits lange vor 1933 sich mit ihrer ganzen Persönlichkeit – oft unter nicht geringen Schwierigkeiten! – für die Ziele des Nationalsozialismus in Baden einsetzten und die nun auch heute wieder, an dem Tag, wo vor zehn Jahren der Gauleiter die Macht übernahm, besonders geehrt werden sollen“. Bei der Ehrengabe, die sie erhielten, handelte es sich um einen aufwendig gestalteten „Bildbericht vom Kampf der badischen Nationalsozialisten“, der nicht in erster Linie auf die Machtübernahme selbst, sondern auf dessen Vorgeschichte zurückblickte. Das Anliegen dieser parteiamtlichen Publikation war wenig subtil: Durch die Parallelisierung der „Kampfzeit“ der NSDAP vor 1933 mit der aktuellen Lage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg – im Vorwort verwies Wagner auf das „aufpeitschende Fanal von Stalingrad“ – sollten Durchhaltewillen und Siegeszuversicht der Altparteigenossen, die an ihren Vorbildcharakter erinnert wurden, gestärkt werden. Nur eine Nebenrolle spielte der 9. März 1933 in dem „Bildbericht“ mit einigen Fotos vom Einzug Wagners in Karlsruhe, der als bloßer Epilog des vermeintlich heroischen Kampfes erscheint, den die badischen Nationalsozialisten in den Vorjahren geführt hatten.

Quellen:

Der Führer, 8.–10.3.1934, 12.3.1935, 9.3.1938, 9.3.1939, 9.–11.3.1943.

 

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„Immer ein verfolgter Nazi?“: Die Wege des nationalsozialistischen Beamten Erwin Otto Schmidt in drei Kapiteln

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Entscheidung des Disziplinarhofs im Dienststrafverfahren gegen Erwin Schmidt (GLA 235 20271) | Klicken für Gesamtbild

Der Verfasser dieser Zeilen hat, wie seine Kolleginnen und Kollegen an den anderen Projektstandorten vermutlich auch, bei den Archivrecherchen manche Beamtenbiographie eher geschäftsmäßig zur Kenntnis genommen, weil sich die Karriereverläufe doch häufig ähneln und das überlieferte amtliche Aktenmaterial nur selten einmal nähere Anschauungen von Persönlichkeitsprofilen erlaubt. Umso einprägsamer sind die Ausnahmefälle, in denen die Beamten für den Rechercheur nicht blasse Figuren bleiben, sondern mit charakterlichen Besonderheiten hervortreten, die als Normabweichungen in den Akten Niederschlag gefunden haben. Einer dieser Ausnahmefälle sei an dieser Stelle heute und in den folgenden Wochen in drei kürzeren Beiträgen porträtiert: der vom Gewerbeschullehrer zum Oberregierungsrat im badischen Kultusministerium avancierte NSDAP-Altparteigenosse Erwin Otto Schmidt, dessen notorisches Querulantentum einen beträchtlichen Aktenanfall verursacht hat.

Kapitel 1: Ein nationalsozialistischer Gewerbeschullehrer als Staatsfeind

Erwin Otto Schmidt wurde 1894 als Sohn eines Maschinentechnikers in Pforzheim geboren. Nach Abschluss der Volksschule wollte Schmidt den Lehrerberuf ergreifen und besuchte zunächst das Vorseminar in Villingen und anschließend das Lehrerseminar Freiburg, wo er im März 1914 die Abgangsprüfung als Volkschullehrer bestand. Als Unterlehrer in Kehl fand er eine erste Beschäftigung, die jedoch schon im September 1914 mit seinem Eintritt in den Kriegsdienst endete. Im Oktober 1914 wurde Schmidt bei einem Gefecht bei Reims durch einen Granatsplitter schwer verwundet und nach einem mehr als einjährigen Lazarettaufenthalt im Frühjahr 1916 aus dem Heeresdienst entlassen. Er kehrte in den Volksschuldienst zurück, den er 1919 unterbrach, um sich weiter zu qualifizieren: Im Juli 1921 bestand Schmidt die Gewerbelehrerhauptprüfung und trat anschließend zunächst als Hilfslehrer in die Gewerbeschule seiner Vaterstadt Pforzheim ein. Zum planmäßigen Gewerbelehrer wurde Schmidt 1927 ernannt. Mit der im Februar 1930 bestandenen Staatsprüfung für das höhere Lehramt an Gewerbeschulen erklomm Schmidt ein weiteres Stück auf der kurzen Karriereleiter, die sich Lehrern bot, denen mangels eigener höherer Schuldbildung ein Studium verwehrt blieb.

Eine mustergültige Aufstiegsbiographie mag dies nicht gewesen sein, aber doch durchaus eine berufliche Erfolgskarriere, die einen offenkundig fleißigen jungen Mann mit einfachem Bildungshintergrund in gesicherte Beamtenverhältnisse brachte. Auch familiär hatte sich Schmidt etabliert: Er hatte 1922 geheiratet, und 1928 war seine Tochter geboren worden. Warum sich Schmidt in dieser Konstellation dem politischen Radikalismus zuwandte, ist mangels aussagekräftiger Quellen nicht nachvollziehbar: Für die These, dass der Nationalsozialismus in den Jahren der Wirtschaftskrise um 1930 insbesondere auf junge Männer in prekären sozialen Verhältnissen starke Anziehungskraft ausgeübt habe, finden sich in Schmidts biographischen Rahmendaten keine Anhaltspunkte. Möglicherweise bestanden bei ihm schon seit längerem rechtsradikale Neigungen und Überzeugungen, die Schmidt erst nach außen trug, als er als Beamter in gesicherte materielle Verhältnisse gelangt war und der politische Anpassungsdruck, der zuvor auf ihm als aufstiegswilligem Volksschullehrer gelastet hatte, wegfiel. Wie dem auch sei: Nahezu zeitgleich mit seiner Aufnahme in das höhere Lehramt jedenfalls trat Schmidt im März 1930 in die NSDAP ein und übernahm in der Partei in Pforzheim schon zwei Monate später das Amt eines Ortsgruppenleiters.

Adam Remmele, 1919/28. GLA 231 Nr. 2937 (869) | Klicken zum Vergrößern

Als solcher zog Schmidt sogleich das Misstrauen seines obersten Dienstherrn auf sich, des badischen Kultusministers Adam Remmele (SPD), der der schleichenden Ausbreitung des Nationalsozialismus, der in Baden mit dem Einzug einer sechsköpfigen NSDAP-Fraktion in den Landtag am Jahresende 1929 Aufwind erhalten hatte, in der Beamtenschaft mit den Mitteln des Dienststrafrechts begegnen wollte. So wurde der junge Parteifunktionär Schmidt zur Rechenschaft gezogen für eine von ihm organisierte Veranstaltung der NSDAP in Pforzheim am 21. Juni 1930: Es handelte sich dabei um eine Protestversammlung gegen das kurz zuvor vom badischen Innenminister Franz Josef Wittemann (Zentrum) ausgesprochene Verbot nationalsozialistischer Uniformen, das Schmidt als „einseitige Maßnahme von großer Willkürlichkeit und Ungerechtigkeit“ kritisierte. Außerdem wurde ihm zur Last gelegt, dem Versammlungshauptredner Gauschriftleiter Kramer eine Bühne für diverse Ausfälle gegen die badische Regierung geboten und im Anschluss an die Versammlung einen Protestzug durch Pforzheim organisiert zu haben.

Der mit der Untersuchung des Falles beauftragte und hierzu mit den „Verrichtungen der Staatsanwaltschaft betraute“ Beamte des Kultusministeriums, Oberregierungsrat Otto Zimmermann, erblickte hierin eine erhebliche Verletzung der einem Staatsbeamten obliegenden Pflichten: Im Recht der freien Meinungsäußerung seien einem Staatsbeamten engere Schranken gesetzt durch sein besonderes Treueverhältnis, das jede Tätigkeit verbiete, die gegen den Bestand des Staates gerichtet sei oder ihn gefährde; der Staatsbeamte habe sich überdies „jeder Handlung zu enthalten, die den Regierungsorganen in der ordnungsgemäßen Führung und Leitung der Staatsgeschäfte Schwierigkeiten bereiten“ könne. Für Zimmermann war die NSDAP zweifelsohne eine staatsfeindliche Partei, und deshalb wollte er das Verfahren gegen Schmidt zu einem Präzedenzfall machen: „Im Hinblick auf die große politische Bedeutung, die einem solchem Vorgang zukommt, und in besonderer Erwägung darüber, daß für die Beamten einmal eindeutig festgestellt werden muß, was ihr dem Staat gegenüber eingegangenes Treuverhältnis bedeutet“, empfahl er, vor dem Disziplinarhof für nichtrichterliche Beamte die Entfernung Schmidts aus dem Amt zu beantragen.

Dieser befasste sich im Oktober 1930 mit dem Fall Schmidt, kam aber zu einer ganz anderen Einschätzung des Sachverhalts als der ermittelnde Beamte des Kultusministeriums. Zwar teilte der Disziplinarhof grundsätzlich die Einschätzung, dass die NSDAP eine staatsfeindliche Partei sei, vermochte aber in der Übernahme von Funktionärsstellungen in dieser oder Werbetätigkeiten für diese Partei nicht zwangsläufig ein Dienstvergehen zu sehen, da dies das politische Betätigungsrecht von Beamten auf eine bloße Gesinnungsfreiheit beschränken würde. Rein abstrakt lasse sich die Frage, was ein Beamter tun dürfe, ohnehin nicht klären, zumal es auch Fälle geben könnte, in denen es geradezu im Interesse des Staates sei, wenn ein Beamter in eine staatsfeindliche Partei eintrete, nämlich wenn, so die höchst eigenwillige Ausführung dieses Arguments, „energische Männer sich an ihre Spitze stellen mit dem ausgesprochenen Ziel und Zweck, diese illegalen Bestrebungen in gesetzliche Bahnen zu lenken“. Nötig sei also die Gesinnungsprüfung im Einzelfall, um herauszufinden, „welche Ziele der einzelne, in der Partei tätig werdende Funktionär und Werber verfolgen will“.

In Schmidts Fall machte sich der Disziplinarhof die Einschätzung eines Zeugen zu eigen, „dass mit dem Angeklagten in die NSDAP ein ruhiger und ordnungsliebender Mann eingetreten“ sei. Abseits der Grundsatzfrage von Mitgliedschaft und Funktionsübernahme in der NSDAP fand der Disziplinarhof Anhaltspunkte für eine Dienstpflichtverletzung jedoch in Schmidts Verhalten bei der Parteiveranstaltung am 21. Juni 1930. Den schweren Beleidigungen der badischen Regierung durch den Hauptredner hätte er nicht die Bühne bereiten dürfen, so der Tenor der Urteilsbegründung, die jedoch auch dafür mildernde Umstände ausmachte: eine gewisse „Zagheit“ des im Parteiamt noch unerfahrenen Angeklagten sowie eine „Nervenstörung“ infolge seiner Kriegsverletzung. Entsprechend milde fiel das Urteil aus: Schmidt wurde mit einem Verweis und einer Geldstrafe in Höhe von 100 Reichsmark bedacht.

Herbert Kraft (GLA 231 Nr. 2937 (982)) | Klicken zum Vergrößern

Für die Leitung des Kultusministeriums, die an Schmidt ein Exempel statuieren wollte, um die Ausbreitung des Nationalsozialismus in der badischen Beamtenschaft einzudämmen, war das Urteil des Disziplinarhofs ein Fiasko, bedeutete es doch einen Freifahrtschein für rechtsradikale Beamte, die sich nun ermutigt fühlen konnten, nicht nur in die NSDAP einzutreten, sondern auch Ämter in der Partei zu übernehmen – wenngleich sie darauf achten mussten, in der politischen Agitation selbst nicht allzu aggressiv aufzutreten. Remmele kapitulierte in dieser Situation allerdings nicht, sondern zog zumindest im Fall Schmidt noch Konsequenzen: Der vom Disziplinarhof geschonte Gewerbeschullehrer nämlich wurde aus Pforzheim nach Mannheim versetzt, offenkundig in der Absicht, das NSDAP-Parteinetzwerk in dessen Vaterstadt zu schwächen und ihm selbst in der nordbadischen Hochburg der Sozialdemokratie ein weiteres rechtsradikales politisches Engagement zu erschweren. Zumindest in dem zweiten Punkt ging dieses mutmaßliche Kalkül nicht auf: In Mannheim fand Schmidt rasch Anschluss an Gesinnungsgenossen und avancierte bereits im Frühjahr 1931 zum stellvertretenden Kreisleiter der NSDAP. Als politischer Redner trat er allerdings offenkundig vor dem 30. Januar 1933 nicht mehr in Erscheinung, um dem Kultusministerium keinen Anlass für die erneute Einleitung eines Dienststrafverfahrens zu geben. Darin unterscheid er sich von seinem Parteifreund Herbert Kraft, der, ebenfalls Lehrer (Gymnasialprofessor) in Pforzheim und ebenfalls nach Mannheim strafversetzt, seinen Sonderstatus als nationalsozialistischer Landtagsabgeordneter dazu nutzte, offen gegen das bestehende politische System und dessen Repräsentanten zu agitieren. Eine Gemeinsamkeit mit Kraft bestand allerdings darin, dass auch Schmidt unmittelbar nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in Karlsruhe einen Karriereschub erlebte, der ihn in die Kultusministerialbürokratie aufrücken ließ. Hierzu trug, wie in Kürze an dieser Stelle geschildert werden wird, maßgeblich der Status eines „verfolgten nationalsozialistischen Beamten“ bei, den Schmidt seit dem 30. Januar 1933 sorgsam pflegte, obwohl ihn doch der Disziplinarhof im Oktober 1930 sehr schonend behandelt hatte.

 

Quelle: GLA 235 20271

 

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„Immer ein verfolgter Nazi?“: Dauerstreit mit den Parteigenossen als Oberregierungsrat im badischen Kultusministerium (Kapitel 2)

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Badischer Kultusminister Otto Wacker. Foto aus: Der Reichstag (Hrsg.): Der Großdeutsche Reichstag, Wahlperiode nach d. 30. Jan. 1933, verlängert bis zum 30.1.1947, Berlin 1938, S. 550 | Klicken zum Vergrößern

Mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler endete die erste von drei Phasen, in denen Erwin Otto Schmidt – so schilderte er selbst es in der rückschauenden Konstruktion seiner Biographie – jeweils wegen seiner politischen Überzeugungen verfolgt wurde. Unmittelbar nach dem 30. Januar 1933 legte der von Pforzheim nach Mannheim strafversetzte Gewerbeschullehrer jegliche politische Zurückhaltung ab, mit der er weiteren dienststrafrechtlichen Maßnahmen des Kultusministeriums ausgewichen war. Als stellvertretender Kreisleiter der Mannheimer NSDAP wirkte er fortan nicht mehr nur hinter den Kulissen, sondern trat auch öffentlich auf: Unterricht habe er gar nicht mehr erteilt, gab ein Kollege aus seiner Gewerbeschule 1945 zu Protokoll; Schmidt habe sich ganz den Parteigeschäften gewidmet, unter anderem als Redner auf dem Mannheimer Rathausbalkon nach den Reichstagswahlen vom 5. März 1933. Zum 1. April 1933 übernahm Schmidt geschäftsführend das Amt des Mannheimer Kreisleiters, und mit der Gleichschaltung der kommunalen Selbstverwaltungsorgane rückte er kurz darauf für die NSDAP in den Mannheimer Stadtrat ein.

Nach einer politischen Karriere, die sich ihm im Frühjahr 1933 zu eröffnen schien, stand Schmidt indes offensichtlich nicht der Sinn. Stattdessen nutzte er die Gunst der politischen Stunde für ein berufliches Avancement, das ihn in die Karlsruher Ministerialbürokratie führte. Sollte der neue Kultusminister Otto Wacker ihn nicht schon zuvor gekannt haben, so dürfte er auf Schmidt aufmerksam geworden sein, als er sich im Mai 1933 darum bemühte, nationalsozialistische Lehrer, die in den Vorjahren dienststrafrechtlich belangt worden, zu entschädigen – im Falle Schmidt bedeutete dies die Rückerstattung der 1930 gegen ihn verhängten Geldstrafe von 100 Reichsmark zuzüglich 68 Reichsmark Verfahrenskosten. Ob Schmidt aus diesem oder aus anderem Anlass mit Wacker in Kontakt kam, ist unklar; jedenfalls berief dieser ihn zunächst in kommissarischer Dienststellung zum 1. August 1933 in die Fach- und Gewerbeschulabteilung des badischen Kultusministeriums. Zum 1. Oktober 1933 wurde Schmidt als Regierungsrat übernommen und am 1. April 1934 zum Oberregierungsrat befördert. In dem Ernennungsantrag Wackers wurden neben Schmidts fachlicher Qualifikation auch seine politischen Meriten hervorgehoben: „Der Genannte ist ein alter Kämpfer für die nationalsozialistische Bewegung; er wurde unter der Amtstätigkeit des ehem. Ministers Remmele wegen seiner Betätigung für die NSDAP im Dienststrafweg verurteilt und anschliessend daran von Pforzheim nach Mannheim versetzt“.

In der Fach- und Gewerbeschulabteilung, die wie die übrigen Abteilungen des Kultusministeriums auch durch Personaltausch an der Spitze politisch neu ausgerichtet wurde, traf Schmidt auf zwei weitere Altparteigenossen der NSDAP: auf den Heidelberger Handelsschullehrer Karl Klepper, NSDAP-Mitglied seit 1931, und auf Siegfried Federle, einen Bruchsaler Studienrat, dem Minister Wacker die Leitung der Abteilung übertrug. Bis Federle 1935 nach Berlin ins Reichsministerium für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung wechselte, scheint die Arbeit der Abteilung, die im Wesentlichen in der personellen Säuberung der badischen Berufsschulen nach politischen und rassistischen Kriterien und der Neuausrichtung des Unterrichts nach den ideologischen Vorgaben des Regimes bestand, reibungsarm funktioniert zu haben. Mit dem Wegzug Federles, dessen Leitungsfunktion zunächst nicht neu besetzt wurde, zeigten sich aber bald Kontroversen, in deren Mittelpunkt Schmidt stand, der nach einem parteipolitischen Anciennitätsprinzip für die Nachfolge Federles in Frage gekommen wäre und sich möglicherweise beiseitegeschoben fühlte.

Schmidts Gegenspieler war dabei Karl Gärtner, den Wacker ebenfalls 1933 als Altparteigenossen der NSDAP ins Kultusministerium geholt und dort zum Leiter der Volksschulabteilung gemacht hatte. In seiner beruflichen Stellung hatte Gärtner, der einfacher Volksschullehrer gewesen war, den früheren Studienrat und nunmehrigen Oberregierungsrat Schmidt als Ministerialrat inzwischen überholt, und vor allem hatte er sich als Parteimultifunktionär eine Machtposition aufgebaut, die es ihm ermöglichte, in die Belange der Nachbarabteilung für Fach- und Gewerbeschulen hineinzuregieren: Gärtner nämlich war bereits seit 1931 Gauamtsleiter des Gauamtes für Erzieher und Gauwalter des Nationalsozialistischen Lehrerbundes (NSLB). An dem Mit-, Neben- und Gegeneinander von staatlicher Kultusverwaltung und parteiamtlicher Schulpolitik entzündete sich der erste in den Akten greifbare Konflikt um Schmidt, der zunächst nur eine rangniedere Stellung in dem Gauamt für Erzieher bekleidete, nämlich als „Abteilungsleiter der Gruppe Gewerbeschulen“ unter dem „Fachschaftsleiter der Fachschaft Gewerbe- und Handelsschulen“ – dies war sein Dienstvorgesetzter im Ministerium Federle. Nach dessen Wegzug ging Schmidt davon aus, dessen Posten im Gauamt übernommen zu haben – jedenfalls führte er eine Zeitlang die Geschäfte der Fachschaft –, musste dann aber erfahren, dass ihm anderer Kandidat vorgezogen wurde: Heinrich Schweizer, ein Gewerbeschullehrer, der allerdings von 1927 bis 1933 als Volksschullehrer in Heidelberg tätig gewesen und erst 1934 dank politischer Verdienste zum Direktor der Karlsruher Gewerbeschule aufgestiegen war. Über Schweizers vermeintlich fehlende Qualifikation ließ sich Schmidt bei verschiedenen Gelegenheit aus und schuf damit Unruhe nicht nur in der Gewerbelehrerschaft, sondern auch im NSLB. Dieser werde ihn, so eine kolportierte Aussage des stellvertretenden Gewerbeschuldirektors aus Emmendingen aus dem Jahr 1936, „bald umgelegt“ haben; Oberregierungsrat Schmidt habe „ja nichts mehr zu sagen“.

Erklärung der ehemaligen Schulkollegin Schmidts Hertha Skierlo zu dessen Verhalten während einer Schülerausstellung (GLA 465 c 957) | Klicken zum Vergrößern

Begleitet wurden die Personalquerelen von persönlichen Anschuldigungen gegen Schmidt, der sich 1937 des Vorwurfs erwehren musste, er habe sich weit mehr als zehn Jahre zuvor – das genaue Datum war nicht mehr auszumachen – als Lehrer in Pforzheim anlässlich einer Ausstellung in der Gewerbeschule an Schülerinnen „sittlich vergriffen“. Urheberin dieses Vorwurfs war eine damalige Kollegin Schmidts, Hertha Skierlo, die ihn offenkundig für eine kurz zuvor wirksam gewordene Versetzung verantwortlich machte. Als Minister Wacker eine Untersuchung des vermeintlichen Vorfalls anordnete, machte die Handarbeitslehrerin zwar umgehend einen Rückzieher und bagatellisierte ihn – Schmidts Verhalten „sei in sittlicher Hinsicht in gar keiner Weise zu beanstanden gewesen“ –, aber die Schädigung seiner Reputation ließ sich damit nicht ungeschehen machen. Schmidts Forderung, die Handarbeitslehrerin dienststrafrechtlich zu belangen, blieb unerfüllt. Als Skierlo stattdessen kurz darauf befördert wurde, witterte er darin einen erneuten Angriff auf seine Person, den er von Ministerialrat und Gauamtsleiter Gärtner ausgehen sah.

Seiner eigenen Wahrnehmung nach völlig unhaltbar wurde Schmidts Stellung im Kultusministerium, als sein Rivale Gärtner zum Jahreswechsel 1939/40 als Ministerialdirektor in die leitende Beamtenstellung des Hauses einrückte und Minister Wacker, bei dem er offenkundig in der Vergangenheit einigen Rückhalt gefunden hatte, im Februar 1940 starb. Dessen Nachfolger Paul Schmitthenner klagte Schmidt Ende November 1940 sein Leid in einem längeren Schreiben, in dem er nicht nur die vergangenen Kontroversen mit Gärtner und dem NSLB schilderte, sondern auch die jüngst von dem Ministerialdirektor vorgenommene Umstrukturierung der Abteilungen des Ministeriums kritisierte: Gärtner hatte in einer seiner ersten Amtshandlungen das Berufs- und Fachschulwesen der Volksschulabteilung unterstellt. Auch dies bedeutete eine persönliche Kränkung für Schmidt, der dem Minister gegenüber keinen Hehl aus seinem Ärger über das „fortwährende unwürdige Verhalten des Herrn Ministerialdirektors“ ihm gegenüber machte: „In wenigen Jahren habe ich das 50. Lebensjahr erreicht. Ich bin der 2.älteste Nationalsozialist unter den Referenten im Unterrichtsministerium. Ich habe mich, wie Ihnen Herr Minister bekannt sein wird, als Parteigenosse wie als Beamter mit meiner ganzen Kraft eingesetzt. Ich habe jahrelang alles stillschweigend erduldet und trotz schwerer Angriffe Disziplin bewahrt. Ich nehme nun das Recht, das jedem Volksgenossen zusteht, für mich in Anspruch, nämlich das Recht auf eine anständige Behandlung und zu diesem Recht muss mir verholfen werden. Ich bitte Sie, Herr Minister, ergebenst um wohlwollende Prüfung und Regelung der gesamten Angelegenheit“.

Wie eine Regelung der gesamten Angelegenheit hätte aussehen können, wusste Schmitthenner offensichtlich nicht; wenn sie darin hätte bestehen sollen, die hausinterne Macht Gärtners zu beschneiden und die Umstrukturierung der Abteilungen rückgängig zu machen, so war er dazu jedenfalls nicht bereit. Schmidt scheint dies vorhergesehen zu haben, denn schon vor seinem Appell an Schmitthenner hatte er Wege zu sondieren versucht, das Kultusministerium zu verlassen. Bereits im April 1940 hatte er sich in einem persönlichen Schreiben an Gauleiter und Reichsstatthalter Robert Wagner gewandt mit der Bitte, ihn bei der Besetzung eines frei werdenden Oberbürgermeisterpostens zu berücksichtigen. Dies wiederholte er im Dezember 1940 und nochmals im März 1941, als der ihm besonders lukrativ erscheinende Posten des Oberbürgermeisters in seiner Vaterstadt Pforzheim durch Tod des Amtsinhabers vakant wurde. Schmidt erinnerte Wagner daran, dass er diese verantwortungsvolle Aufgabe bereits 1933 hatte übernehmen wollen, dass er damals aber leider nicht berücksichtigt worden sei. An seiner Eignung für das Amt ließ Schmidt keine Zweifel erkennen: „So glaube ich auf den Gebieten der Organisation, der Wirtschaft, der Technik und der Finanzen und nicht zuletzt auf dem kulturellen Sektor besondere Veranlagungen mitzubringen. … Auch reiche Erfahrungen in der Verwaltung, wie sie mir bei meiner ersten Bewerbung im Juni 1933 in dem heutigen Ausmaß nicht zur Verfügung standen, habe ich mir in den 8 Jahren meiner Tätigkeit im Ministerium des Kultus und Unterrichts erworben“.

Schmidts Bewerbung um die Oberbürgermeisterstelle in Pforzheim – seiner Heimatstadt (GLA 465 c 957) | Klicken für Gesamtbild

Hatte Gaupersonalamtsleiter Adolf Schuppel Schmidt in der Reaktion auf die beiden Bewerbungsschreiben des Jahres 1940 noch zu einem Gespräch gebeten, um ihm in mutmaßlich freundlicher Form mitzuteilen, dass er als Oberbürgermeister nicht in Frage käme, so wurde das dritte Schreiben Schmidts in dieser Sache offenkundig gleich in die Ablage genommen. Da sich ein beruflicher Ausweg aus dem Kultusministerium, der nach seinem Willen zugleich ein Aufstieg sein sollte, ebenso wenig finden ließ wie ein Goldener Handschlag für den 47-jährigen und damit noch kaum ruhestandsfähigen Oberregierungsrat, musste sich Schmidt wohl oder übel mit den Verhältnissen arrangieren. Diese wurden ihm noch unbequemer, als seit dem Sommer 1940 badische Ministerialbeamte herangezogen wurden, um am Aufbau einer deutschen Zivilverwaltung im besetzten Elsass mitzuwirken. Auch für Schmidt bedeutete dies, dass er einen zweiten Arbeitsplatz erhielt und regelmäßig nach Straßburg fahren musste, wo ihm die Neuordnung des elsässischen Gewerbeschulwesens oblag.

Von der Vermehrung seiner Arbeitsaufgaben und der psychologischen Last des Konflikts mit Gärtner befreite Schmidt vorübergehend eine Erkrankung, deren genaue Umstände sich nicht rekonstruieren lassen, da seine Personalakte aus dem Kultusministerium, die Krankmeldungen und eventuelle medizinische Gutachten enthalten müsste, bislang nicht aufgefunden werden konnte. Einem Dossier zufolge, das im August 1947 in der Nachfolgebehörde des Kultusministeriums, der Abteilung Kultus und Unterricht beim Präsidenten des Landesbezirks Baden, angefertigt wurde, kursierten zwei widersprüchliche Krankengeschichten: Schmidt selbst habe angegeben, wegen einer Blutvergiftung krank gewesen zu sein, „welche dadurch entstanden sei, daß er sich beim Durchblättern von Akten mit Papier in den Finger geschnitten habe“. Nach den Angaben anderer sei er jedoch an Gonorrhöe oder Syphilis erkrankt gewesen – hierfür spreche, dass am Jahresende 1941 vom Staatlichen Gesundheitsamt ein Gutachten angefordert wurde, ob Schmidt frei von ansteckenden Krankheiten sei.

Was auch immer der Grund für Schmidts einjährige Abwesenheit vom Dienst (bei vollen Bezügen) gewesen sein mag; zum Jahresbeginn 1942 nahm er seine Arbeit in Karlsruhe und in Straßburg wieder auf. Vermutlich drängte auch Minister Schmitthenner auf eine Wiederverwendung Schmidts, da sich durch Einberufungen zum Kriegsdienst etliche Lücken im Personalbestand des Ministeriums ergeben hatten. Allerdings gewann Schmidt nicht den Eindruck, nun unverzichtbar zu sein, sondern führte bald Klage darüber, dass wichtige Zuständigkeiten seiner Abteilung einem jüngeren Referenten, dem 1938 als Studienrat ins Ministerium eingetretenen Werner Kistner, übertragen wurden. Da seine Arbeitsmotivation offensichtlich nicht hoch war, empfand Schmidt auch den Komplettumzug des Kultusministeriums von Karlsruhe nach Straßburg am Jahreswechsel 1942/43 als ein Ärgernis. Den wiederholten Aufforderungen der Amtsleitung an alle „Gefolgschaftsmitglieder“, ihren Wohnsitz ins Elsass zu verlagern, kam Schmidt nicht nach, da er sein Karlsruher Haus nicht aufgeben wollte. Dieses wurde im Dezember 1944 durch eine Fliegerbombe schwer beschädigt.

Wie Schmidt das letzte halbe Jahr des Krieges verbrachte, erschließt sich aus den überlieferten Akten nicht. In den Unterlagen zur überhasteten Räumung des Kultusministeriums in Straßburg am 23. November 1944 taucht sein Name nicht auf: Entweder war Schmidt an diesem Tag nicht vor Ort oder ihm gelang die rechtzeitige Flucht aus der Stadt – jedenfalls blieb ihm das Schicksal von knapp drei Dutzend Beamten und Angestellten des Ministeriums erspart, die in französische Internierungshaft gerieten. Schmidts Abteilung fand, als sich im Dezember 1944 das Kultusministerium an verschiedenen Standorten in Baden neu organisierte, in Meersburg Quartier. Vermutlich hielt er sich dort auf, als am 23. Februar 1945 seine Frau, die nach der Beschädigung des Karlsruher Hauses bei seinem Bruder in Pforzheim eine Unterkunft gefunden hatte, bei einem Fliegerangriff starb. Die zweite Phase seiner Biographie, die für ihn rückschauend ganz im Zeichen seiner Verfolgung durch die Nationalsozialisten stand, nahm ihren Ausklang also mit einer persönlichen Tragödie. Ihren Abschluss fand sie im Mai 1945 mit der von der amerikanischen Militärregierung angeordneten Dienstentlassung, die Schmidt wie alle anderen Beamten traf, die der NSDAP angehört hatten.

 

Quelle: GLA 465 c 957

 

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„Immer ein verfolgter Nazi?“: Erwin Otto Schmidts NS-Biographie als Nachkriegsnarrativ (Kapitel 3)

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Rechtfertigungsschreiben Schmidts (GLA 465h 12623) | Klicken zum Vergrößern

Nach den persönlichen Schicksalsschlägen der letzten Kriegsmonate – der Zerstörung seines Karlsruher Hauses und dem Tod seiner Ehefrau – verlor Erwin Otto Schmidt mit dem Zusammenbruch des „Dritten Reiches“ seine berufliche Stellung: Als Altparteigenosse der NSDAP wurde er auf Anordnung der amerikanischen Militärregierung im September 1945 aus seinem Amt als Oberregierungsrat im badischen Kultusministerium, in das er im Jahr 1933 aufgestiegen war, entlassen. Bereits vier Monate zuvor war sein Gehalt gesperrt worden, wogegen Schmidt sich vergeblich zu wehren versucht hatte, unter anderem mit der Vorlage einer Erklärung, in der er seine politische Biographie der vergangenen zwölf Jahre skizzierte: Er habe seit April 1933 keine Funktion mehr in der NSDAP bekleidet, keine Parteiveranstaltungen besucht und keine Uniform getragen, sondern vielmehr „passiven Widerstand“ gezeigt, „kümmerte mich nicht um politische Anordnungen u. verweigerte jegliche Mitarbeit“, machte er in einem Schreiben an die Militärregierung – zu diesem Zeitpunkt war noch die französische für Karlsruhe zuständig – vom 14. Mai 1945 geltend.

Wegen seines dissentierenden politischen Verhaltens habe er, so Schmidt dort weiter, schwere berufliche Nachteile erlitten: Zum 1. Januar 1941 sei er aus dem Kultusministerium „hinausgeworfen“ worden; erst nach einem Jahr Arbeitslosigkeit habe er seinen Dienst wiederaufnehmen dürfen. „In den folgenden Jahren wurde ich ununterbrochen gedrückt u. gequält oft in meiner Ehre verletzt u. beleidigt u. seelisch mißhandelt. Es war ein jahrelanger Leidensweg. Jede finanzielle Besserstellung bezw. Beförderung wurde durch die Gauleitung abgelehnt. In einer Unterredung am 20. Dezember 1944 in Baden-Baden beschwerte ich mich zuletzt wegen der schlechten Behandlung. Darauf brüllte mich Minister Schmitthenner an u. schrie: ‚Ich werde Sie durch den Gauleiter aus dem Ministerium hinausbringen‘. Wenn der Umsturz nicht gekommen wäre, wäre ich mit aller Sicherheit aus dem Ministerium hinausgeflogen u. würde im Konzentrationslager sitzen“. Durch das „verhaßte Nazisystem, das ich seit 1933 bekämpft, habe ich verloren meine Frau, mein Haus, mein Hab u. Gut, meine Gesundheit u. wurde in meinem Beruf geschädigt. Ich fordere dafür Entschädigung auf Kosten der früheren Verantwortlichen u. bitte ergebenst um Genehmigung“, so Schmidt, der auf seine bisherige Beamtenstelle zurückkehren wollte oder aber eine Verwendung in der „Wirtschaft (Industrie, Handwerk, Wirtschaftskammer, Arbeitsamt)“ anstrebte.

Mit derselben Taktik – der Umdeutung von persönlichen Konflikten mit NSDAP-Parteifunktionären zu einer konsequenten politischen Systemopposition, bizarren Überzeichnungen der eigenen „Verfolgung“ und der offenen Lüge, die krankheitsbedingte Beurlaubung vom Dienst 1941 zur politisch motivierten Entlassung in die Arbeitslosigkeit zu adeln – wandte sich Schmidt im November 1945 auch an die amerikanische Militärregierung, die auf seine Forderung, die Gehaltssperre aufzuheben und ihn wieder zu beschäftigen, allerdings ebenfalls nicht reagierte. Wie die allermeisten Beamten, die 1945 aus politischen Gründen entlassen worden waren, musste auch Schmidt das Spruchkammerverfahren abwarten, von dessen Ausgang abhängig war, ob er in den öffentlichen Dienst zurückkehren konnte.

Sein Verfahren wurde vor der Spruchkammer Karlsruhe geführt, die sich im Sommer 1947, also knapp zwei Jahre nach seiner Entlassung, seinem Fall zuwandte. Auf das Verfahren versuchte Schmidt mit einer Reihe von Schriftsätzen Einfluss zu nehmen, in denen er sein 1945 entwickeltes autobiographisches Narrativ erweiterte und variierte. Da sich seine Formalbelastung als NSDAP-Parteimitglied seit 1930 nicht wegdiskutieren ließ, konzentrierte sich Schmidt in seinen Rechtfertigungsschriften darauf, den Vorwurf, er sei „Nutznießer“ der nationalsozialistischen Herrschaft gewesen, zu entkräften, indem er darauf abhob, dass sein Aufstieg aus dem Gewerbeschuldienst in die Ministerialbürokratie im Jahr 1933 keineswegs politisch bedingt gewesen sei. So verstieg er sich in einem Schreiben vom 8. September 1947 zu der Behauptung, „daß ich gegen meinen Willen ins Unterrichtsministerium eintreten mußte und dort von Anfang (1933) an von NS-Führern mehr und mehr gedrückt, beleidigt und in meiner Berufsehre angegriffen wurde“. Auch habe ihm die Ernennung „keine Vorteile und besonders keinen finanziellen Nutzen, sondern nur Nachteile gebracht“, meinte Schmidt, der sein letztes Gewerbeschullehrergehalt seinen Bezügen als Regierungsrat (die um knapp vier Reichsmark monatlich höher lagen) gegenüberstellte – dass er schon ein halbes Jahr nach seinem Eintritt ins Ministerium und damit außergewöhnlich früh zum Oberregierungsrat befördert wurde, ließ Schmidt bei dieser Rechnung allerdings außer Betracht. Von März 1934 bis 1945 sei er dann gar nicht befördert worden, ein „untrügliches Zeichen dafür, daß ich seit der nat.soz. Gewaltherrschaft, also seit 1933, mich für die Partei nicht mehr einsetzte und mehr und mehr zum Widerstand überging“. Vom Ausgang seines Verfahrens nahm Schmidt deshalb „mit Bestimmtheit“ an, „daß ich als Entlasteter unter die Weihnachtsamnestie eingereicht werde“.

Um einer solchen Einstufung den Weg zu bereiten, hatte Schmidt einige Entlastungszeugnisse, überwiegend von Gewerbeschullehrern, gesammelt, die ihm bescheinigten, in seiner amtlichen Funktion immer sachbezogene Arbeit geleistet und dadurch den Zorn der Parteifunktionäre auf sich gezogen zu haben. Schmidt sei, so Otto Zipperlin, „höchstens vor der Machtübernahme ein Nazi“ gewesen. „Die auf die Dauer unerträglichen Speichelleckereien um die höheren Führer der Partei, die für einen Kulturmenschen unerträglichen Verfolgungsmaßnahmen gegen Juden und Kirche, die mit der Zeit immer offenkundiger in Erscheinung tretenden Vorbereitungen auf einen angeblichen Präventivkrieg entfremdeten ihn von Jahr zu Jahr der Partei, so daß man annehmen muß, daß er seit dem Jahre 1937 ein ausgesprochener Gegner des Nazisystems geworden war“. Durch „politischen Druck auf Andersdenkende“ habe sich Schmidt“ nie gegen die „allgemeinen Menschenrechte vergangen“. Wohl aber habe er „infolge seiner sozialen Grundeinstellung vielen Menschen, die in Not geraten waren, geholfen, ohne jemals aus einer solchen Handlung Nutzen gezogen zu haben“.

Aussage von Otto Zipperlin (GLA 465h 12623) | Klicken zum Vergrößern

Was in den allermeisten Fällen durch eigene Entlastungsnarrative und flankierende Persilscheine gelang, nämlich die direkte Einstufung als „Mitläufer“, missglückte Schmidt, da der Öffentliche Kläger auch einige belastende Aussagen vorlegen konnte, die Zweifel an der Selbstdarstellung des entlassenen Oberregierungsrats bekräftigten oder vielleicht auch erst weckten. Da Schmidt seine Gegnerschaft zum Nationalsozialismus vor allem wegen der Kontroversen innerhalb des Kultusministeriums geltend machte, lag es nahe, Erkundigungen bei ehemaligen Kollegen einzuholen, von denen einige auch ausführlich Auskunft gaben. Zu ihnen zählte der ehemalige Hilfsreferent in der Fach- und Gewerbeschulabteilung Franz Eichkorn, der sich in einem Schreiben vom 30. Juli 1947 schwertat, Schmidt eindeutig zu charakterisieren: Es sei „nicht leicht, einem Uneingeweihten aus diesem Wust von Altkämpfertum, menschlicher Unzulänglichkeit und Postenjägerei ein klares Bild zu zeichnen“. Dass Schmidt mit den Funktionären des Nationalsozialistischen Lehrerbundes in einem Dauerstreit gestanden habe und insbesondere sein Verhältnis zum späteren Ministerialdirektor Karl Gärtner völlig zerrüttet gewesen sei, stellte Eichkorn nicht in Abrede; allerdings seien alles dies Konflikte unter Altparteigenossen gewesen, und in seiner Amtsführung habe sich Schmidt immer den Zielen des Regimes verpflichtet gefühlt und habe er etwa alles getan, „um der vormilitärischen Ausbildung der Jugend zu dienen“.

Auch hielt Eichkorn Schmidt seine notorische Kirchenfeindschaft vor, die ihm umso übler erschien, als sie im „Dritten Reich“ bekanntlich das „billigste Mittel“ gewesen sei, jemanden „als Gegner unschädlich zu machen“. Auf politischen Fanatismus wollte Eichkorn dies nicht zurückführen, sondern machte Charakterdeformationen bei Schmidt geltend: „Er selber ist nach meiner Überzeugung ein Aussenseiter mit krankhaftem Geltungsbedürfnis. Überall hatte er Krach und kein Mensch wollte mit ihm zusammenarbeiten“. Den gleichen Tenor hatte auch eine Zeugenaussage Otto Wiebers, der als Regierungsamtmann zwölf Jahre an der Seite Schmidts im Kultusministerium gearbeitet hatte, etliche der von diesem vorgetragenen Entlastungsargumente als wahrheitswidrig darstellte und bilanzierte: „Aufgrund dieses Verhaltens ist es mir einfach unbegreiflich, wenn Schmidt heute den politisch Verfolgten spielt und sich so hinstellt, als ob er mit den Nazis überhaupt nichts zu tun gehabt hätte“.

Eichkorns, Wiebers und einige andere Belastungszeugnisse wurden von der Spruchkammer Karlsruhe durchaus gewürdigt, als sie im September 1948 über Schmidt verhandelte. Zwar wollte sie dem Votum des Öffentlichen Klägers, der Schmidt wegen seiner frühen Parteimitgliedschaft und seiner Parteiämter nach den gesetzlichen Vorgaben in die Gruppe der „Hauptschuldigen“ einordnete, nicht folgen, da seine Parteikarriere nach 1933 doch offensichtlich ins Stocken geraten war – dass Schmidt sich noch 1941 darum bemüht hatte, Oberbürgermeister in Pforzheim zu werden und somit einen wichtigen politischen Posten zu übernehmen, blieb im Übrigen im Spruchkammerverfahren unentdeckt, da die Personalakten der Gauleitung der NSDAP zu diesem Zeitpunkt nicht zugänglich waren. Schmidt zum „Mitläufer“ zu erklären, wie dies in etlichen vergleichbaren Fällen und zumal zu diesem späten Zeitpunkt der Entnazifizierung geschah, sah sich die Spruchkammer aber nicht in der Lage. Dass sie ihn als „Minderbelasteten“ einstufte, lag an den negativen Zeugnissen seiner ehemaligen Kollegen aus dem Kultusministerium und wohl auch maßgeblich an Schmidts Lüge über seinen dienstlichen Status im Jahr 1941. Die Angabe seiner „Suspendierung“ sei „nicht richtig. Der Betroffene war wohl wegen Krankheit ausser Dienst, hat aber sein volles Gehalt bezogen. Politische Gründe scheiden aus“, hieß es in der Begründung des Spruchs, die aber auch die Entlastungszeugnisse würdigte und es für gerechtfertigt hielt, „dem Betroffenen die Möglichkeit zu geben, in einer Probezeit zu beweisen, dass er seine Pflichten als Bürger eines friedlichen demokratischen Staates erfüllen wird“.

Protokoll der Karlsruher Berufungskammer (GLA 465h 12623) | Klicken zum Vergrößern

Schmidt zeigte sich mit seiner Einstufung als „Minderbelasteter“ unzufrieden und brachte seinen Fall vor die Karlsruher Berufungskammer. In seinem Begründungsschreiben zog Schmidt vor allem die Glaubwürdigkeit der Belastungszeugen in Frage, die er pauschal als „Parteigenossen und S.A.-Mitglieder“ diskreditierte. Die Berufungskammer tat ihre Pflicht und führte am 25. Februar 1949 eine mündliche Verhandlung, bei der auch sämtliche Belastungszeugen gehört wurden. Im Ergebnis bestätigte sie den Spruch vom September des Vorjahres, wobei der Begründung deutlich zu entnehmen ist, dass Schmidt durch den wiederholten Vortrag seiner autobiographischen Legenden die Geduld der Beteiligten bis aufs Äußerste strapaziert hatte: Schmidt sei „nach Überzeugung der Berufungskammer und den gleichen Worten eines Zeugen gekennzeichnet, dass er stets ein verfolgter Nationalsozialist gewesen ist. Vor 1933 und nach 1933, und heute wird er auch als Nationalsozialist verfolgt. Es gibt kaum ein Aktenstück von jemand das in derart dreister Weise Behauptungen aufstellt, dass [er] Nachteile erlitten hätte“. Von der Bewährungsfrist könne nicht abgesehen werden, „da der Betroffene heute noch nicht ganz von dem Nationalsozialismus frei ist“. Erst als diese Frist im Februar 1950 verstrichen war, erlangte Schmidt nach den gesetzlichen Regelungen automatisch den Status eines „Mitläufers“.

Als dieser erreicht war, stellte sich auch die Frage seiner Wiederverwendung im öffentlichen Dienst beziehungsweise seiner Zurruhesetzung. In Anbetracht der Unruhen, die Schmidts Spruchkammerverfahren auch in der Karlsruher Kultusverwaltung verursacht hatte, dürfte es dort mit einiger Erleichterung aufgenommen worden sein, dass Schmidt inzwischen nicht mehr auf seine Rückkehr in den Dienst drängte, sondern ein ärztliches Gutachten vom Januar 1951 vorlegte, das dem 56-jährigen eine ganze Reihe gesundheitlicher Beeinträchtigungen (Bewegungseinschränkung des Schultergelenks, Hüftschaden, chronische Kehlkopfentzündung mit starker Stimmbandschwäche, Herabsetzung des Seh- und Hörvermögens sowie pektanginöse Beschwerden) attestierte, mit denen die Voraussetzungen für eine Zurruhesetzung gegeben seien. Für die Abteilung Kultus und Unterricht beim Präsidenten des Landesbezirks Baden war nun allerdings noch zu klären, auf welcher Grundlage seine Versorgungsbezüge festgesetzt werden sollten.

Die Wiedereinstellungskommission der Karlsruher Kultusabteilung folgte dabei dem vergleichsweise harten Kurs der Spruchkammer und verweigerte Schmidt die volle Pension: Seine Ernennung zum Regierungsrat im Oktober 1933 und seine Beförderung zum Oberregierungsrat im Frühjahr 1934 seien nicht auf besondere dienstliche Leistungen zurückzuführen, „sondern lediglich auf seine Mitgliedschaft und Betätigung in der NSDAP“. Deshalb sei bei der Berechnung von seinen Bezügen als Studienrat – diese Stellung hatte Schmidt vor der nationalsozialistischen Machtübernahme innegehabt – auszugehen. Zu einer namhaften Aufstockung seiner Versorgungbezüge kam es erst acht Jahre später, als das baden-württembergische Kultusministerium den Fall Schmidt erneut prüfte. Unter Berufung auf die ständige Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts in ähnlichen Fällen kam man nun zu der Einschätzung, „daß bei der Ernennung des Beamten zum Regierungsrat und seiner Berufung ins Bad. Ministerium des Kultus und Unterrichts zwar die enge Verbindung zum NS. eine wesentliche Rolle gespielt hat, nicht aber der überwiegende Grund gewesen ist“. Da man dasselbe auch für die Beförderung zum Oberregierungsrat annahm, kam Schmidt in den Genuss einer deutlichen Anhebung seiner Versorgungsbezüge. Nachdem ihm Spruchkammerverfahren zehn Jahre zuvor die plakative politische Rehabilitierung durch einen raschen Mitläuferbescheid verwehrt worden war, wurde ihm nun mit Verspätung die materielle Rehabilitierung zuteil. Wie Schmidt hierauf reagierte und ob er in späteren Lebensjahren vom Selbstbild eines dreifach verfolgten Nazis abrückte, erschließt sich aus den überlieferten Akten nicht.

Quellen:

GLA 465h 12623, 467-1 1349 (Quellenanhang)

 

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„Ich habe weitergelebt, aber ich bin nie mehr glücklich gewesen.“ Der ehemalige württembergische Justizanwärter Fritz Wolf in der Emigration

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Fritz Wolf mit seiner ersten Ehefrau in Nahariya/Palästina, vermutlich 1936. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von Ken Myer

Das Projekt zur Erforschung der Landesministerien zeichnet immer wieder auch die Lebenswege Einzelner nach, um hierüber zu Erkenntnissen über die Verfolgungspraxis und die Beteiligung regionaler Akteure an repressiven Maßnahmen des NS-Regimes zu kommen. Oft stützen sich Historikerinnen und Historiker dabei auf Quellen, die in einem erheblichen zeitlichen Abstand zum Geschehen entstanden sind und aus einer spezifischen Perspektive auf die Ereignisse ab 1933 zurückblicken und zudem in der Regel einem speziellen Zweck dienten. Auskunft über „Täter“ oder „Mitläufer“ sowie Verfolgte geben zum Beispiel Spruchkammerakten und Wiedergutmachungsverfahren. Im Rahmen der Erforschung der Geschichte des württembergischen Justizministeriums sind aufgrund der besonderen historischen Umstände, dass das Ministerium des Landes Baden-Württemberg nach 1945 für die Wiedergutmachung verfolgter und entlassener Beamter aus den eigenen Reihen verantwortlich war, einige Fälle überliefert, von denen die Biografie des Justizanwärters Fritz Wolf für die Erarbeitung umfangreicher didaktischer Materialien für den Schulunterricht herausgegriffen wurde.

Am 17. März 1954 stellte Fritz Wolf, wohnhaft in Nahariya/Israel, einen Antrag auf Wiedergutmachung. Als promovierter Jurist befand er sich 1933 als Referendar beim Landgericht Heilbronn im Vorbereitungsdienst. Angesichts des antisemitischen Terrors des Frühjahrs 1933 und persönlicher Anfeindungen im Berufsumfeld erkannte er, dass er „als Deutscher nichtarischer Abstammung nicht in der Lage sein werde, mir auf Grund meiner juristischen Ausbildung eine Existenz zu gründen“ – so formulierte es Wolf in seinem Entlassungsgesuch, das er am 3. Juni 1933 an das Württembergische Justizministerium richtete. Das „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ war zu diesem Zeitpunkt knapp zwei Monate alt. Die Umsetzung in allen Behörden hatte noch nicht gegriffen, aber sie stand kurz bevor. In den 1950er Jahren wurde ohne Zweifel angenommen, dass Wolf „mit Sicherheit kurze Zeit später“ auf Grundlage des Beamtengesetzes entlassen worden wäre. Noch im Sommer 1933 verließ Fritz Wolf das Deutsche Reich und emigrierte zunächst nach Italien und 1936 nach Palästina.

Anhand der Biografien derjenigen, denen eine Auswanderung gelang, können die historischen Komplexe der Verfolgung, Emigration und Wiedergutmachung behandelt werden. Mit einer didaktischen Aufbereitung dieser Quellen wird vor allem ein Zugriff über die geschichtsdidaktischen Prinzipien der Narrativität, Perspektivität und Authentizität erreicht. Zu den didaktischen Materialien für den Schulunterricht zur Biografie Fritz Wolfs

 

Eidesstattliche Erklärung von Fritz Wolf zu den Ereignissen im Frühjahr 1933, verfasst 1954, HStAS EA 4/150 Bü 1320

Die umfassende „Säuberung der Justiz“ zielte auf einen frühzeitigen Ausschluss politisch missliebiger und nach rassistischen Kategorien als jüdisch geltenden Personen, die im unmittelbaren Justizdienst oder freischaffend in der Rechtsanwaltschaft tätig waren. Zeitgleich mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ trat das „Gesetz zur Zulassung zur Rechtsanwaltschaft“ in Kraft. Jüdischen Juristinnen und Juristen drohte somit nicht nur die Entlassung aus dem öffentlichen Dienst, sondern für sie erging de facto ein generelles Berufsverbot. Im Land Württemberg betraf dies – durch Ausnahmeregelungen nach Dienstalter sowie für Weltkriegsteilnehmer früher oder später – mindestens 113 Personen. Einige entschlossen sich aufgrund dieser Verfolgungserfahrung früh, Deutschland zu verlassen. Kamen persönliche Anfeindungen oder gewalttätige Übergriffe hinzu, wurde diese Entscheidung befördert. Persönliche Lebensumstände – war man allein oder hatte eine Familie zu versorgen, hatte man eine andere berufliche Tätigkeit in Aussicht und überhaupt die finanziellen Mittel zur Verfügung, um eine Auswanderung zu bezahlen – hatten zudem großen Einfluss auf den Emigrationszeitpunkt und -zielort. Hugo Marx, Verfasser einer Dokumentation über das „Schicksal der jüdischen Juristen in Württemberg und Hohenzollern“ (1965)  und selbst Verfolgter des NS-Regimes, bemerkte dazu: „Bedeutet auswandern an sich schon ein hartes Schicksal, so war der deutsche Jurist besonders benachteiligt, da er nur in seltenen Fällen seine beruflichen Kenntnisse im Ausland verwerten konnte.“ An Fritz Wolfs Biografie, die er für den Wiedergutmachungsantrag darlegen und mit Dokumenten belegen musste, lassen sich einige dieser Überlegungen gut nachvollziehen.

Für die Entschädigung der Beamten war der ehemalige Dienstherr verantwortlich, für Fritz Wolf somit das Justizministerium Baden-Württembergs, das von 1953 bis 1966 Justizminister Wolfgang Haußmann (FDP) leitete, der sich sehr für die Wiedergutmachung und Aufklärung nationalsozialistischen Unrechts einsetzte. Anders als in anderen Bundesländern oblag in Baden-Württemberg die Fachaufsicht über die Wiedergutmachungsämter dem Justizministerium. Wolfs Antrag wurde somit von der Nachfolgeinstitution geprüft und beschieden, aus der er rund 21 Jahre zuvor aufgrund der rassistischen Verfolgung ausgeschieden war. Für die Entscheidung, ob einem Referendar, der sich zum Zeitpunkt seiner Entlassung oder Kündigung noch nicht im regulären Justizdienst oder einem dauerhaften Beamtenverhältnis befunden hatte, Entschädigungsleistungen u.a. für Verdienstausfall und Rentenzahlungen zustanden, war die Klärung zweier Sachverhalte maßgeblich: zum einen musste Fritz Wolf nachweisen, dass er „nach Ablegung der grossen Staatsprüfung die Übernahme in den Staatsdienst erstrebt hätte“ und zum anderen musste ermittelt werden, ob „er vom Staat auch tatsächlich übernommen worden wäre“, so teilte es das Justizministerium Wolf am 4. Dezember 1954 mit.
Die Entscheidung in Fritz Wolfs Sache erging am 19. April 1956. Die Prüfung seiner hypothetischen Übernahme in den Justizdienst fiel positiv aus. Das Justizministerium konstruierte eine mögliche Karriere Fritz Wolfs, wonach er „im Verlauf seiner Dienstlaufbahn voraussichtlich mit Wirkung zum 1. März 1939 zum Landgerichtsrat“ befördert worden wäre, womit ihm nun – im Jahre 1956 – die Berechtigung verliehen wurde, die Bezeichnung „Landgerichtsrat außer Dienst (a.D.)“ zu führen. Einem internen Schreiben im Wiedergutmachungsverfahren ist zu entnehmen, dass ihm dabei zugute gehalten wurde, „dass er sich in Israel nach seinen Angaben auch einer beamtenrechtlichen Tätigkeit zugewandt hat (Postbeamter).“. Dass er nie Anwalt hatte werden wollen, sondern „immer die Absicht gehabt habe, im Staatsdienst zu bleiben“ hatten Fritz Wolf sowie ein Bekannter eidesstattlich versichert.
Für die Berechnung seiner Entschädigungsansprüche musste Fritz Wolf noch mehrfach Nachweise über sein Einkommen erbringen. In diesem Zusammenhang äußerte er sich auch 1957 nochmals zu seiner Anstellung als Briefträger und 1942 als „Telegraphist und Telephonist“ bei der Mandatsregierung in Palästina: „Die Gehaltssätze waren derart gering, dass sie zu einem 14-tägigen Generalstreik aller Postbeamten führten. Einer Frau, die Zimmer aufräumte, wurde damals schon das Doppelte gezahlt.“

Im Falle Fritz Wolfs ist es ein Glück, dass weitere Quellen zu seiner Biografie existieren, die nicht aus seiner Wiedergutmachungsakte stammen und somit noch weitere Perspektiven auf sein Leben eröffnen, die für den Antrag auf Entschädigung nicht von Bedeutung waren: In den Jahren 1997 und 1999 hat Fritz Wolf dem Historiker Klaus Kreppel mehrere lebensgeschichtliche Interviews gegeben. Er beschreibt darin seine Herkunft, die Verfolgungserfahrung und Emigration sowie sein Leben in Palästina/Israel. In seinen späten Lebensjahren zog Wolf ein resigniertes Resümee. Er habe es nie verwunden, Deutschland verlassen zu müssen und das Leben, in das er hineingeboren war, aufzugeben. Er bezeichnete den von ihm empfundenen Zwang zur Emigration als „Riss“, der in seiner Biografie für immer fortbestanden habe. Was sich Jahrzehnte später als erfolgreiche Gründungsgeschichte des Staates Israel darstellte, sei zu Beginn für die Bewohnerinnen und Bewohner der neu gegründeten Siedlung Nahariya, in der Wolf lebte, harte Arbeit und einfachste Lebensweise gewesen, mit der er sich nie richtig habe anfreunden können – er sei „von künstlerischer Empfindsamkeit“, stamme aus einem „bürgerlichen, verwöhnten Haus (…) wo man schon sagen kann, es geht an die Dekadenz“. Er berichtet unter anderem, neben seiner Tätigkeit als Briefträger („man war kein Beamter“) sei er auch noch Klavierlehrer und Blumenverkäufer gewesen.
Fritz Wolf, der in seiner Jugend eine klassische musische Ausbildung erfuhr, vollbrachte es darüber hinaus, neben der Sicherung seiner Existenz unter widrigsten Umständen künstlerische Arbeit zu hinterlassen, die noch heute von seinem Lebensweg und der Gründungsgeschichte der ehemals überwiegend deutschen Siedlung in Palästina zeugt: er verfasste zahlreiche literarische Schriften, Gedichte, Musik- und Theaterstücke, die das Leben in Nahariya und sein eigenes Schicksal zum Gegenstand haben. 1938 komponierte und textete er die „Nahariade“, ein musikalisch untermaltes Theaterstück von anderthalb Stunden. „Die Leute haben das selbst eingeübt und vorgeführt. Fritz Wolf hat ihnen ein wenig die Laune gehoben; sie konnten über sich selbst, über ihre Situation lachen. Trotz der schweren Zeit wurde die Kultur gepflegt“, so Andreas Meyer, der als Jugendlicher nach Nahariya kam.
Fritz Wolf gelang es dabei, den Kontrast zwischen der Lebenswelt, der er entstammte, und den Umständen in der Emigration literarisch einzufangen. So beschrieb er in seinem „Israel-Buch für Anfänger“, wie er und seine Schwester, die schon 1935 mit ihrer Familie nach Nahariya emigriert war, in der Beackerung des Feldbodens unterbrochen, einem „feinen Herrn“ begegneten: „So sehr hatte ich mich schon verwandelt in diesen wenigen drei oder vier Tagen, dass der Mann auch mir auf die Nerven ging durch sein blosses elegantes Dahinschreiten. Er hatte ein kleines graues Schnurrbärtchen, gut gestutzt, auf der Oberlippe sitzen und das Gesicht eines Gelehrten mit seinem Ausdruck von Schläue… ‚Guten Morgen, Frau Doktor,‘ sagte der Mann. Meine Schwester blickte hoch und sagte: ‚Guten Morgen, Herr Doktor‘. Herr Doktor. Frau Doktor. Gretel mit dem Häckchen, der Mann mit dem Spazierstock. ‚Ich sehe, sie haben Besuch.‘ […] und wir schüttelten uns die Hände wie es unter wohlerzogenen Akademikern üblich ist, nur dass meine Knie schmutzig waren und Doktor Süsskinds Anzug in fleckenloser Helle strahlte. ‚Sehr angenehm,‘ sagte ich, und ‚sehr angenehm,‘ sagte Doktor Süsskind.“

Als Chronist und Schriftsteller, als „Kulturträger“, wie er selbst sagte, hat Fritz Wolf viel mehr hinterlassen als es der Schriftwechsel mit dem Referat für Wiedergutmachung erahnen lässt. Die finanzielle Entschädigung sicherte ihm und seiner Familie – über 20 Jahre nach der Flucht aus Deutschland – einen gewissen Lebensstandard. Seinen Frieden fand er nicht. „Ich habe weitergelebt, aber ich bin nie mehr glücklich gewesen.“

 

Unter Mitwirkung von Dr. Jan Schleusener

Quellen: HStAS EA 4/150 Bü 1320, StAL EL 350 I Bü 26663, Kreppel, Klaus: Wege nach Israel. Gespräche mit deutschsprachigen Einwanderern in Nahariya, Bielefeld 1999, S. 37-49 (Fritz Wolf); Maiwald, Salean A.: Aber die Sprache bleibt. Begegnungen mit deutschstämmigen Juden in Israel, Berlin 2008, S. 48-56 (Andreas Mayer), Ausschnitt aus „Israel-Buch für Anfänger“ zitiert nach Kreppel, Lena: Deutsch. Jüdisch. Israelisch. Identitätskonstruktionen in autobiographischen und essayistischen Texten von Erich Bloch, Jenny Cramer und Fritz Wolf, Würzburg 2012, S. 94.

„Baden 1933“ – ein von Geschichtswissenschaft, Schule und historisch-politischer Bildungsarbeit gemeinsam erstelltes Materialien-Heft

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Katrin Hammerstein, Mitarbeiterin des Forschungsprojekts „Geschichte der Landesministerien in Baden und Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus“, hat auf dem Blog der Heidelberg School of Education (HSE) über die Publikation „Baden 1933. Die nationalsozialistische Machtübernahme im Spannungsfeld von Landes- und Reichspolitik“ berichtet. Das Heft wurde von Frank Engehausen und Katrin Hammerstein, beide Mitglieder des Heidelberger Projektforschungsteams, gemeinsam mit Ulrike Falkner und Elli Plett, die als Lehrerinnen an dem 2016 durchgeführten „Denkwerk“-Programm der Robert Bosch Stiftung beteiligt waren, erarbeitet und von der Landeszentrale für politische Bildung im September 2017 herausgegeben.

Das MATERIALIEN-Heft „Baden 1933“ | Klicken zum Vergrößern

Im Mai dieses Jahres hat das von der Baden-Württemberg Stiftung geförderte Projekt „Geschichte der Landesministerien in Baden und Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus“ bei einer Landespressekonferenz zentrale Ergebnisse seiner Forschungen präsentiert. Über die wissenschaftliche Untersuchung von Rolle und Handlungsspielräumen der Landesverwaltungen und ihrer Beamten während der NS-Diktatur hinaus hatte das Projekt, das von 2014 bis 2017 an den Universitäten Bonn, Erfurt, Freiburg, Heidelberg und Stuttgart bearbeitet wurde, ein weiteres Anliegen: die Kommunikation seiner Forschungstätigkeit und Zwischenergebnisse in die Öffentlichkeit und die Interaktion mit der Öffentlichkeit, parallel zum Forschungsprozess.

Kooperationen des Forschungsprojekts

Neben regelmäßigen Blogbeiträgen auf dem Online-Portal www.ns-ministerien-bw.de sowie Tagungen und Workshops gehörten dazu auch Kooperationen mit Schulen und der Lehrerausbildung. So wurden im Rahmen eines universitären Fachdidaktik-Kurses am Historischen Seminar der Universität Heidelberg von Lehramtsstudierenden Unterrichtsmaterialien auf Basis der vom Projekt erschlossenen Quellenmaterialien entwickelt. Ein „Denkwerk“-Programm der Robert Bosch Stiftung ermöglichte Schülerinnen und Schülern von zwei Gymnasien der Region nicht nur Einblicke in das wissenschaftliche Arbeiten, sondern auch die aktive Teilnahme daran. Im September 2017 wurde dann bei der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg das Heft „Baden 1933. Die nationalsozialistische Machtübernahme im Spannungsfeld von Landes- und Reichspolitik“ veröffentlicht. Die Publikation, dessen Textteil von zwei Mitgliedern des Heidelberger Forschungsteams (Frank Engehausen und Katrin Hammerstein) verfasst wurde, während zwei der am „Denkwerk“ beteiligten Lehrerinnen (Ulrike Falkner und Elli Plett) die didaktische Aufbereitung besorgten, ist in der Reihe MATERIALIEN erschienen und ist über die Seite des Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg online abrufbar.
Die Lese- und Arbeitshefte dieser Reihe kombinieren die Vermittlung historischen Wissens mit praktischen Anregungen für die Bildungsarbeit. Ihre Themen fokussieren regionale Beispiele und werden in der Regel in Zusammenarbeit mit den Gedenkstätten im Land erarbeitet. Entsprechend lassen sich die Hefte im Schulunterricht ebenso wie in der Jugend- und Gedenkstättenarbeit einsetzen und stellen damit ein Angebot dar, schulisches und außerschulisches Lernen miteinander zu verbinden, wie es auch in den Bildungsplänen eingefordert wird.

Aktuelle Forschungen als Angebot für den Schulunterricht

Für das Projekt „Geschichte der Landesministerien in Baden und Württemberg in der Zeit des Nationalsozialismus“, das bei dem hier vorgestellten Heft Kooperationspartner der Landeszentrale war, ergab sich somit die Chance, Teile seiner Forschungsergebnisse einem breiteren Publikum zugänglich und seine ausgiebigen Quellenrecherchen und -funde für die geschichtspädagogische Arbeit und Demokratieerziehung fruchtbar zu machen. Gerade der Blick auf die Landesebene, in diesem Fall auf Baden, macht deutlich, wie fadenscheinig die von den Nationalsozialisten propagierte „Legalität“ der „deutschen Revolution“ war. Denn im Unterschied zum Reich erfolgte die Errichtung der NS-Herrschaft in dem südwestdeutschen Land nicht auf den Trümmern eines ohnehin instabilen Systems, sondern sie hatte die Entmachtung einer demokratischen Regierung mit parlamentarischem Rückhalt zur Voraussetzung. Weiterhin wird anhand des Regionalbeispiels nachvollziehbar, dass der nationalsozialistische Herrschafts- und Repressionsapparat nicht zentral, von Berlin aus „ferngesteuert“ wurde. Vielmehr trugen zahlreiche Täter, Mittäter und Unterstützer vor Ort zum Funktionieren der NS-Diktatur bei. Die landesgeschichtliche Perspektive kann hierfür sensibilisieren und so zu einem vertieften Verständnis der Geschichte des Nationalsozialismus beitragen. Besonderes Augenmerk gilt in dem MATERIALIEN-Heft daher den lokalen Akteuren sowie den Wechselbeziehungen von Landes- und Reichspolitik.

Der Aufbau des Hefts

Aus dem Textteil des Hefts | Klicken zum Vergrößern

In 15 Texteinheiten wird die nationalsozialistische Machtübernahme und „Gleichschaltung“ in Baden im Jahr 1933 geschildert. Nach einem Blick auf die Vorgängerregierungen und die Parteienlandschaft vor 1933 liegt der Schwerpunkt dann auf den politischen Entwicklungen von den Reichstagswahlen im März bis zur Selbstentmachtung des Landtags im Juni 1933. Maßnahmen wie die „Gleichschaltung“ der Polizei und personelle „Säuberungen“, die Verfolgung politischer Gegner und der jüdischen Bevölkerung, die Einsetzung des Reichsstatthalters und der kommissarischen wie endgültigen Landesregierung, aber auch kultur- und propagandapolitische Aspekte dieser Etablierungsphase der nationalsozialistischen Diktatur werden unter anderem thematisiert. Korrespondierend zu den Textabschnitten finden sich im zweiten Teil des Hefts Arbeitsmaterialien und Aufgaben. Mit zahlreichen Quellen wie etwa der Regierungserklärung des nationalsozialistischen badischen Ministerpräsidenten oder Briefen des in „Schutzhaft“ genommenen und 1934 ermordeten SPD-Reichstagsabgeordneten Ludwig Marum (1882–1934), mit historischem Bildmaterial sowie Schaubildern und Statistiken werden hier Vorschläge für die (nicht nur) schulische Arbeit mit Jugendlichen gemacht. Diese können auch als Doppelseiten kopiert und ausgegeben werden. Ergänzend enthält das Heft vier „Didaktische Zugänge“, die Informationen und Anhaltspunkte für die Arbeit im Archiv, Reden und Fotografien als Quellen sowie Gedenkstättenbesuche geben. Am Schluss des Hefts werden außerdem Begleitmaterialien zur Verfügung gestellt, so zum Beispiel eine bebilderte Übersicht der Schauplätze der Machtübernahme in Baden, eine Zeittafel und eine Karte der Gedenkstätten und Erinnerungsorte im Land Baden-Württemberg. Auch das Projekt Lernort Kislau und die Erinnerungsstätte Ständehaus stellen sich hier vor.
So ertragreich, wie die Zusammenarbeit für die an der Erstellung des MATERIALIEN-Hefts „Baden 1933“ beteiligten Partner war, so vielfältig und ergiebig erhoffen sich diese die Verwendung des Hefts in und außerhalb der Schule.

Das Heft kann über die Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg bezogen oder online als PDF-Datei heruntergeladen werden: http://www.lpb-bw.de/bausteine.html.

Auf unserer Homepage sind die von Studierenden entwickelten Unterrichtsmaterialien einsehbar; ebenso sind dort Berichte über die „Denkwerk“-Zusammenarbeit zu lesen und einige der Schülerarbeiten dokumentiert: http://ns-ministerien-bw.de/materialien/fuer-schulen/; http://ns-ministerien-bw.de/category/blog/; http://ns-ministerien-bw.de/materialien/schule/

Weitere zahlreiche Unterrichtsmaterialien finden sich in der Rubrik „Für Schulen„.

 

Die Nationalsozialisten und das Nacktbaden: Zur Vorgeschichte einer badischen Verbotsverfügung vom Juli 1933

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Die badische Landesnaturschutzstelle zum Weingartener Moor (GLA 235 47678) | Klicken zum Vergrößern

Im Frühjahr 1933 wurden die Nationalsozialisten, die die Landesministerien in Karlsruhe und in Stuttgart okkupiert hatten, mit Gesuchen und Beschwerden überflutet, die von Einzelnen oder Interessengruppen vorgetragen wurden, die sich von dem politischen Systemwechsel persönliche Gunsterweisungen oder die Abstellung vermeintlicher allgemeiner Missstände versprachen. Im badischen Kultusministerium zum Beispiel reagierte man hierauf mit einer strikten Begrenzung des Publikumsverkehrs im Hause und bereits Ende März 1933 mit einer über das Amtsblatt verbreiteten Anordnung, Gesuche und Beschwerden nur über den Dienstweg vorzutragen.

Auf eben diesem Weg hat sich in den Akten über den Naturschutz, der damals in die Zuständigkeit des Kultusministeriums fiel, das Gesuch eines Durlacher Bürgers erhalten, dessen Identität sich wegen unleserlicher Handschrift nicht mehr klären ließ. Er wandte sich am 10. April 1933 mit einem Brief an den kommissarischen Leiter des Kultusministeriums, Otto Wacker, um ihn darauf aufmerksam zu machen, dass das „landschaftliche reizvolle, botanisch und zoologisch interessante Moorgebiet“ bei Weingarten seit einigen Jahren nicht mehr besucht werden könne: Der „frühere (marxistische) Bürgermeister von Weingarten“ nämlich habe den See und das Ufergebiet an eine Karlsruher Nacktbadegesellschaft verpachtet – die gleiche Gesellschaft habe in Karlsruhe einen „Gymnastikabend eingerichtet, woselbst Männer u. Frauen völlig nackt zusammen turnen“. Er selbst sei, so der Durlacher Bürger, „absolut nicht prüde und glaube, dass in der Freikörperkulturbewegung ein gesunder Kern steckt und bin auch für Abschaffung des Badebekleidungszwangs in von nur gleichgeschlechtlichen Personen besuchten Bädern, wie es bei unseren nordischen Stammverwandten üblich ist“. Allerdings halte er es doch für erforderlich, dass die Verpachtung an die Karlsruher Nacktbadegesellschaft zurückgezogen und das Weingartner Moorgebiet unter Naturschutz gestellt „und der Allgemeinheit wieder zugänglich gemacht wird“.

Im Kultusministerium hielt man diesen Hinweis für so relevant, dass Erkundigungen bei der badischen Landesnaturschutzstelle eingeholt wurden. Deren Leiter Max Auerbach griff den Gedanken, das Weingartener Moor zum Naturschutzgebiet zu erklären, gerne auf, da dies „schon seit Jahren einer der Hauptwünsche der Landesnaturschutzstelle“ sei: Dieser „letzte Überrest eines grossen Moorgebietes, das sich von Wiesloch bis nach Durlach hinzog“, sei unbedingt erhaltenswert und lasse sich „auf Empfehlung des Herrn Unterrichtsministers hin“ vermutlich „leicht“ unter Naturschutz stellen, meinte Auerbach, der auch darauf verwies, dass sich die dortige „Nacktbadegesellschaft“ schon „des öfteren unliebsam bemerkbar gemacht“ habe. Es sei „auch schon Beamten der Landessammlungen, die auf Exkursion im Moor waren, begegnet, dass sie in eine solche Nacktkulturgesellschaft hinein geraten sind“.

Obwohl in diesen Wochen im Kultusministerium Hochbetrieb herrschte – unter anderem wurden die Schulen und Universitäten im Vollzug des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums rassistisch und politisch „gesäubert“ –, wurde für das Weingartener Nacktbadeproblem eine rasche Lösung angebahnt. Am 24. Mai 1933 erging an die Landesnaturschutzstelle die Aufforderung, „alle vorbereitenden Schritte für die Erklärung des Weingartener Moores zum Naturschutzgebiet zu unternehmen“, und knapp einen Monat später legte Wacker dem badischen Innenministerium Erhebungen vor, die das Landespolizeiamt Karlsruhe auf seine Veranlassung über den hiesigen „Freikörperkulturbund“ gemacht hatte. Zwar hätten die Ermittlungen ergeben, dass entgegen dem Anfangsverdacht auf dem Grundstück des Bundes „eigentliche Nacktkultur“ nicht „getrieben“ worden sei; Wacker wollte gleichwohl die Gelegenheit nutzen, grundsätzlich auf das Problem hinzuweisen: „Gegen die heutige Freiluftbewegung ist an sich, soweit sie sich in den Grenzen von Sitte und Anstand hält, nichts einzuwenden. Diese Grenzen sind eingehalten, wenn die Badenden mit einer ordnungsgemäßen Badebekleidung versehen sind und wenn ihr Verhalten einwandfrei ist“. Genauere Vorschriften hierüber, wie sie in Preußen gemacht wurden, hielt Wacker nicht für ratsam, „weil derartige Bestimmungen leicht kleinlich und lächerlich wirken“.

Verbot der Nacktkulturbewegung in Baden (Karlsruher Zeitung vom 6. Juli 1933) | Klicken zum Vergrößern

Sei eine nähere Definition „ordnungsgemäßer Badebekleidung“ auch untunlich, so meinte Wacker doch, „dass ein polizeiliches Eingreifen immer dann erforderlich wird, wenn eigentliche Nacktkultur getrieben wird, d. h. vor allem, wenn Personen verschiedenen Geschlechts ohne Badebekleidung zusammen Luft- oder Wasserbäder nehmen. Ein Einschreiten wird m. E. auch dann erforderlich sein, wenn ein solcher Freiluftbadebetrieb innerhalb eines gegen Sicht abgeschlossenen Grundstückes stattfindet und wenn nur Mitglieder einer bestimmten Vereinigung teilnehmen“. Ein derartiges Verhalten entspreche nicht „der sittlichen Auffassung unseres Staates“ – das im Entwurf vor „Staates“ platzierte Attribut „christlichen“ wurde vor Ausfertigung des Schreibens gestrichen. Von der Auffassung des Innenministers zu der im Raum stehenden Frage „und der etwa getroffenen Entschliessung“ bat Wacker um Verständigung.

Der Meinungsbildungsprozess im Innenministerium über das Nacktbadeproblem lässt sich anhand der eingesehenen Akten nicht nachvollziehen. Sein Ergebnis jedoch ist klar: Am 3. Juli 1933 verbot Innenminister Karl Pflaumer unter Berufung auf den ersten Paragraphen der Verordnung zum Schutz von Volk und Staat – der berüchtigten Reichstagsbrandverordnung vom 28. Februar 1933 – die „bestehenden Verbände und Gruppen der Anhänger der sogenannten Nacktkulturbewegung im Lande Baden“. In einem erläuternden Schreiben an die Bezirksämter und Polizeipräsidien des Landes teilte er dazu in Ausschmückung der Argumente Wackers mit: „So sehr es im Interesse der Volksgesundheit zu begrüssen ist, dass immer weitere Kreise, insbesondere auch der großstädtischen Bevölkerung, bestrebt sind, die Heilkraft von Sonne, Luft und Wasser ihrem Körper dienstbar zu machen, so sehr muss die sogenannte Nacktkulturbewegung als eine kulturelle Verirrung abgelehnt werden“; sie sei „eine der grössten Gefahren für die deutsche Kultur und Sittlichkeit“. Das Verbot gebe der Polizei die Möglichkeit „zu einem Einschreiten auch in den Fällen, wenn der Nacktbadebetrieb in abgeschlossenen, und nur bestimmten Personengruppen zugänglichen Badeplätzen durchgeführt wird. Durch das Verbot soll die gesamte Tätigkeit der sogenannten Nacktkulturverbände unterbunden werden“.

Titelblatt „Deutsche Freikörperkultur. Zeitschrift für Rassenpflege, naturgemäße Lebensweise und Leibesübungen. Offizielles Organ des Kampfringes für völkische Freikörperkultur“ (Heft 3, August 1933) | Klicken zum Vergrößern

Wie das Verbot in Baden angewendet wurde, vermag der Verfasser dieser Zeilen nicht zu sagen; er verweist aber gerne auf einen Beitrag von Gernot Horn im Karlsruher „Blick in die Geschichte“ (Nr. 98 vom 15. März 2013), in dem das weitere Schicksal der Nacktbadefreunde im Weingartener Moor skizziert wird: Wie etliche andere Freikörperkulturvereine beschritten auch sie den Weg einer Selbstgleichschaltung und schlossen sich dem nationalsozialistischen „Kampfring für völkische Freikörperkultur“ und später dem „Bund für Leibeszucht“ an – Nacktbaden war also fortan nur unter völkischen Prämissen erlaubt. Die Badestelle im Weingartener Moor konnte der Karlsruher Vereinsvorsitzende Adolf Schaffert, der sie offenkundig persönlich gepachtet hatte, nach etlichen Kontroversen mit dem Durlacher Forstamt und den benachbarten Sportfischern bis zum Sommer 1939 erhalten. Dann fand das Nacktbaden dort ein Ende, weil das Weingartener Moor mit sechsjähriger Verspätung nun tatsächlich zu einem Naturschutzgebiet erklärt wurde.

Quelle:

GLA 235 47678

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Weihnachtsrätsel: Sechs Fragen zu den Blogbeiträgen des Jahres 2017

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Weihnachtsrätsel 2017

Das diesjährige Weihnachtsrätsel umfasst 6 Fragen zu den 2017 veröffentlichten Blogbeiträgen. Als aufmerksamem Besucher unseres Online-Portals wird es Ihnen sicher nicht schwer fallen, die Fragen zu beantworten. Wenn Sie uns am Ende des Rätsels Ihre Email-Adresse verraten, haben Sie zudem die Chance auf ein Buch als nachträgliches Weihnachtsgeschenk – der/die Gewinner/in wird von uns benachrichtigt. Das Rätsel läuft bis zum 31. Dezember.

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